Kapitel 15~ich muss abnehmen~

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Ich fühlte mich ekelhaft. Dick. Fett. Meine Therapeutin machte mir auch keinen Mut, im Gegenteil. Aber sie hatten ja alle recht, es lief nicht. Aber wollte ich denn dass es lief? Ich wollte dünn sein. Aber ich wollte auch „normal" leben. Die anderen versammelten sich zum Kuchen essen, M hatte Geburtstag. Die Sonne schien und ich wollte mich sowieso durch Musik ablenken, also setzt ich mich auf die Fensterbank und ließ die Sonne mein Gesicht wärmen. Die ersten richtig warmen Sonnenstrahlen dieses Jahr. Mir war trotzdem kalt. Mein Kopf tat weh, der Hunger fast unerträglich. Und dieser Schwindel... aber ich wusste es würde vorbei gehen. Anfangs war es immer so. Es würde besser werden, durchhalten. Meine Knochen taten weh auf der harten Fensterbank also holte ich mir ein Kissen aber es wurde nicht besser. Ich lauschte den Tönen und dachte nach. Dachte über Ana nach, übers hungern, über das morgige Familiengespräch. Ich hatte Angst, vor so vielem. Und mit jedem bisschen Angst wurde Ana ein Stück stärker. Ein Stück lauter. Mein Kopf ist voll von ihrer Stimme. In der Schule hatte ich keine Freude mehr. Alles war langweilig oder doof. Ich konnte mich sowieso nicht konzentrieren. Ich übte mich am häkeln aber es klappte nicht so ganz.

Ungeduldig wartete ich, dass die Zeit verging. Nicht mehr lange, dann war Ausgang und ich konnte eine Runde im Park joggen gehen. 10 Minuten noch. Die Sonne war etwas weniger warm geworden, eine leichte Wolke hatte sich davor geschoben. Ansonsten was der Himmel eisblau. Den Hunger hatte ich schon fast wieder vergessen. Ich war unendlich müde. Es war nur eine Frage der Zeit bis ich wieder umkippen würde. Alle Farbe war aus meinem Gesicht gewichen. Aber ich war stolz. Ich hatte abgenommen. Und ich würde noch mehr abnehmen.

2 Tage waren vergangen. Ich hatte tatsächlich etwas abgenommen, aber bei weitem nicht genug. Ich war ekelhaft fett. Meiner Therapeutin stand die Sorge ins Gesicht geschrieben, aber ich blieb dabei. Alles über 40 war zu dick. „Wenn du so weit runter gehst, überlebst du das nicht..." es war mir egal. Mir war alles egal. Irgendwas war bei den Worten meiner mum in mir kaputt gegangen. Irgendwas hatte mich zerrissen. Seitdem war mir alles egal. Krieg in der Ukraine, egal. Hunger, egal. Schlaf, egal. Alles egal. Ich schlief früh ein gestern, es war alles zu viel gewesen. Trotzdem kam ich kaum aus dem Bett. Ich ließ das Frühstück ausfallen und trank stattdessen einen Tee. Kämpfte mich zur Schule. Mir war schwindelig und ich konnte nicht denken. Aber auch das zweite Frühstück ließ ich ausfallen. Endlich war die Schule vorbei und ich trottete auf wackeligen Beinen zum Mittagessen. Es gab hänchenkeule, mein Lieblingsessen hier, aber ich war stärker. Ich wiederstand und versuchte mich an Gesprächen zu beteiligen um mich abzulenken. Mein Magen knurrte. Beruhigend legte ich eine Hand auf den Bauch. Es würde besser werden. Ich musste hungern. Nach dem Mittagessen legte ich mich erschöpft und frierend in mein Bett. Tatsächlich schlief ich ganze zweieinhalb Stunden ein, und wachte nur auf weil ich geweckt wurde da ich einen Termin hatte. Es ging mir nicht gut aber ich musste ja so tun als ob, und Bewegung würde mir gut tun, also ging ich mit den anderen nach draußen. Und auch die darauffolgende Mahlzeit ließ ich ausfallen. Es fiel mir zunehmend schwerer bei Bewusstsein zu bleiben. Ich beschloss duschen zu gehen, in der Hoffnung etwas aufzuwärmen, erfolglos. Ich konnte vor der Kälte in meinem Körper nicht weglaufen. Frierend stellte ich die Dusche ab und trocknete mich zügig ab. Ich schnappte Geld, eine Jacke , Mütze und Kopfhörer und lief los zum Rewe. Ich brauchte Zahnpasta und einen Energy. 11kcal auf die ganze Flasche, auf ganze 500ml. Ich war mehr als zufrieden. Es schmeckte gut, gab mir Energie und füllte meinen Magen. Und jetzt sitze ich hier und denke nach. Es wird langsam immer dunkler und ich friere. Schlückchenweise trank ich den guten weißen Monster und dachte über alles nach. Wie lange würde ich ohne essen noch aushalten? Wann würden sie mir wieder die Sonde geben? Wollte ich das wirklich alles? Wollte ich wirklich in den Abgrund stürzen? Wollte ich mich wirklich aufgeben wegen ein paar Worten meiner mum? Ja. Wollte ich. Nein eigentlich nicht, aber ich konnte es nicht verhindern. Es hatte zu sehr weh getan. Da war etwas zerbrochen. Ich trank den Energy aus und machte mich auf den Weg zur Station. Auch zu Abend würde ich nichts essen. Ein weiterer erfolgreicher Tag. Morgen würde ich mit dem Zug nach Hause fahren und in den Stall gehen. Ich würde wieder nicht essen. Übermorgen genauso. Und dann würde ich zurück fahren. Bis dahin hatte ich sicherlich noch etwas mehr abgenommen.

Auch die letzten beiden Mahlzeiten hielt ich erfolgreich stand und aß nichts. Ich trank ein wenig Tee um meinen Magen zu füllen aber es half nicht gegen die unterzuckerung. Und wie ich unterzuckert war... ich zitterte durchgängig am ganzen Körper. Ich fühlte mich schwach und mir war schlecht. Gleichzeitig stieg mir Hitze ins Gesicht, vermutlich von der Panik. Panik vor dem Wochenende. Panik davor dass all dies nie ein Ende haben würde. Panik dass die Panik nicht mehr weg gehen würde. Mein Herz raste. Meine Finger waren kalt und kribbelten. Ich wollte wirklich etwas essen in der Hoffnung dass es mir dann besser gehen würde aber es war schon zu spät. Ich konnte nicht mehr. Die Angst vor der Nahrungsaufnahme war innerhalb weniger Tage unfassbar schlimm geworden. Ich versuchte mich zu beruhigen aber konnte mich kaum mehr auf den Beinen halten. Keiner durfte etwas mitbekommen. Aber J kannte mich. Und er machte sich sorgen. Ich hatte es gesehen, gesehen wie er den ganzen Tag schon sorgenvoll auf mein volles Tablett und das unangerührte essen geschaut hatte. Wie er mich absuchte mach Zeichen wie es mir ging. Er schaute in Momenten in denen ich dachte unbeobachtet zu sein und kurz die Maske fallen lassen zu können. Und wie jeden Abend standen wir dort alle im Dunkeln des Flurs und quatschten. Ich lehnte mich erschöpft gegen die Wand. Mein Kopf tat weh, meine Beine zitterten. Ich schaute ihn an, lächelte und zeigte die Daumen hoch. „Du musst mir nichts vormachen. Ich weiß wie es dir geht." es verunsicherte mich. Er breitete die Arme aus und ohne drüber nachzudenken flüchtete ich mich in seine großen Arme. Ich wollte mich schon lösen aber instinktiv legte ich meinen Kopf gegen seine Brust und hielt ihn fest. Ich brauchte das grade. Und er hielt mich. Ich war nicht alleine. Er war so groß, mein schmächtiger knochiger Körper versank in seiner Umarmung und ich war kurz sicher. Er legte sein Kinn auf meinen Kopf. Er war ein guter Freund. Ein wirklich guter Freund. Denn es brauchte keine Worte in dieser Situation, er wusste das ich grade einfach nur halt brauchte. Ich wollte nicht reden oder weinen, ich brauchte nur halt. Ich löste mich vorsichtig. „Danke" flüsterte ich und er nickte. Dann machten wir einfach so weiter wie immer und auch die anderen sprachen nicht darüber oder machten blöde Sprüche. Mir war nicht aufgefallen dass allen anderen aufgefallen war in welchem Zustand ich war. Kurz vorher hatte F mich ebenfalls angesprochen: „Du siehst absolut Tod aus." ich fand nicht. Glasige Augen und Augenringe okay, aber sonst war alles wie immer. Ich dachte ans Wochenende und prompt kam die Panik zurück. Ich würde das schon irgendwie schaffen. Hoffentlich hatte ich morgen abgenommen. All das leid musste sich irgendwie bezahlt machen. Mein schlechtes Gewissen deswegen steig zwar immer mehr, aber ich schob es mit aller Kraft zur Seite. Ich versuchte nur an die sinkenden Zahlen zu denken. „Beauty is pain.." erklang es leise aus meiner Musikbox. Erschöpft sank ich in mein Bett. Ich war müde. Dabei war es nicht mal zehn. Ich beschloss trotzdem zu versuchen zu schlafen. Ich musste morgen fit sein. Ich löschte das Licht und versuchte mich nicht auf die Panik sondern die Musik zu konzentrieren.

Ana~??Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt