„Ich hätte schwören können, dass die Wunde gerade noch schlimmer aussah!" Ellie tupfte das getrocknete Blut von meiner Wange.
„Du reagierst so über!", beschwerte ich mich, hatte aber wieder ein halbes Grinsen im Gesicht. Ellie hatte den halben Kühlschrank geplündert und mir nicht nur drei verschiedene Softgetränke, sondern auch zwei Packungen Pudding, Muffins und diverse Snacks gebracht.
„Die Suppe kommt auch gleich. So, jetzt ist dein Wangenknochen nur noch leicht blau", stellte sie zufrieden fest und setzte sich neben mich. „Tut mir leid, dass das ausgerechnet an deinem Geburtstag passiert ist."
„Das muss dir nicht leidtun", antwortete ich. „Die Geburtstagsfeier heute Nacht war absolut ausreichend. Wir haben Kuchen gegessen, mit Sekt und Kakao angestoßen und ich habe Geschenke von euch bekommen. Das war absolut perfekt", beruhigte ich sie.
„Hast du gesehen, dass ich das Plakat schon aufgehängt habe? Und nächstes Mal gibt es Ärger, wenn du nochmal auf die Idee kommst, uns an deinem Geburtstag etwas zu schenken", drohte sie.
„Jaja", brummte ich augenverdrehend. „Aber sie sind echt toll, oder?"
„Sowas von! Jetzt haben wir alle unser Sternbild über unseren Betten hängen. Absolut genial", schwärmte sie. Nach einem Seitenblick auf mich fuhr sie fort. „Jessica hat Alex gegenüber erwähnt, dass die neuen Austauschstudierenden bald ankommen. Und Alex Mitbewohner, der ja Otto-Peters Assistent ist, hat wieder damit angefangen all seine Sachen zu bügeln. Alle sind voll in Aufruhr und schieben total Panik. Selbst die Dozierenden scheinen aufgeregt. Sumi hat nämlich erzählt, dass selbst der überkorrekte Professor McDoof heute früher Schluss gemacht hat, um noch die letzten Vorbereitungen zu treffen."
„Das ist echt supermerkwürdig", stimmte ich ihr zu und war froh über die Ablenkung. „Weißt du noch, als wir ausversehen dieses super elitäre Treffen gecrasht haben?"
Ellie lachte. „Ohja! Diese Blicke werde ich niemals vergessen. Wetten die gehörten alle zu dieser Sekte von der Atwood Academy? Internat ab der 5. Klasse stelle ich mir so heftig vor."
„Hundertprozentig! Und ja, das war sicherlich kein Spaß."
„Trotzdem kein Grund sich wie versnobte Royals aufzuführen."
„Meine Rede." Ich kicherte. „Apropos Royals, meinst du wir können unsere Liste heute Mal ignorieren. Ich habe mega Lust auf The Royals! Ich vermisse Eleonore und Liam."Ellie klatschte in die Hände. „Damit kann ich sowas von leben!" Es klopfte und sie nahm das Tablett entgegen, dass ihr gereicht wurde.
„Du hast jemanden zum Suppe kochen angeheuert?", lachte ich ungläubig.Sie nickte stolz. „Es hat sich so ergeben", erwiderte sie schulterzuckend und stellte das Tablett ab. „Dumbledore meinte übrigens du könntest morgen frei machen."
„Wann hast du denn mit dem Dekan gesprochen?"„Vorhin." Sie grinste und platzierte den Laptop auf dem Nachtisch. Dann richtete sie ihr Kissenlager ein und wir kuschelten uns unter die Decke.
Ich hatte nicht besonders viel geschlafen. Stattdessen hatte ich den Großteil der Nacht mit Chroniken der Unterwelt und meinem Notizbuch verbracht. Ich hatte dieses abgegriffene Buch schon so lange, dass ich mich nicht einmal daran erinnerte, wer es mir geschenkt hatte. So viele Sätze wie heute Nacht hatte ich noch nie aus einem Buch übertragen. Aber dieses kribbelnde Gefühl befiel mich wieder und wieder. Außerdem war alles besser als die heftigen Alpträume, die mich diese Nacht mit Sicherheit überfallen hätten.
Jetzt bereute ich natürlich den wenigen Schlaf. Und noch mehr bereute ich meinen Übermut. Denn vor ein paar Monaten, als man sich dafür anmelden konnte, hatte ich mich für ein zusätzliches Feminismus Seminar angemeldet, das von einer externen Dozentin geleitet wurde. Ich schleppte mich also um acht Uhr, wo wir kaum einer Menschenseele begegneten, durch die Flure.
Ellie hatte mich sogar in den Waschraum begleitet. Ich glaubte nicht, dass sie mich so bald wieder irgendwo allein hingehen lassen würde. „Schmeckt dein Kaffee auch so gut? Ich liebe es frühmorgens auf dem Campus unterwegs zu sein. Es ist dann immer so friedlich."
„Du hast viel zu viel Energie, Ellie", beschwerte ich mich, nippte aber auch an dem Kaffee in meinem wiederverwendbaren To-Go-Becher. „Ich hätte am liebsten Sumis Sonnenbrillen Aktion dupliziert. Meine Augenringe sehen so gruselig aus und haben exakt dieselbe bläuliche Farbe wie meine Wange!"
„Wärst du mal früher aufgestanden, wie ich es gesagt habe, dann hättest du auch genug Zeit gehabt, das mit etwas Concealer zu verdecken."
Ich verdrehte die Augen. „Im Bett zu liegen war mir wichtiger", murmelte ich. Draußen nieselte es, deshalb hatten wir nicht den Weg durch den Park genommen, sondern waren durch das Gebäude gegangen, um zu den Vorlesungsräumen neben der Bibliothek zu kommen, die nur für besondere Veranstaltungen genutzt wurden. Wir betraten den Raum, der sich direkt über dem Laden befand und stiegen die Stufen nach oben, um uns weiter hinten einen Platz zu suchen. Die Wände waren holzvertäfelt und die hohen Fenster hatten dieselbe gusseiserne Bogenform wie die in der Bibliothek. Ich mochte den Raum damals auf Anhieb.
Wir gingen an den wenigen Studierenden vorbei, die bereits da waren und ich versuchte gerade herauszufinden, was wohl vorteilhafter war. Nah am Gang, um nach dem Kurs schnell verschwinden zu können oder weiter rechts in der Reihe und riskieren, dass man, wenn man auf Toilette musste, sich an allen anderen vorbei drängeln musste. Da sah ich plötzlich hoch und mein Blick landete direkt auf Ramiel.
Ramiel, der es sich bereits mit Azael und Cael auf den ungemütlichen Klappsitzen bequem gemacht hatte.
„Was zur Hölle?", entfuhr es mir.
Ramiel und Azael warfen sich einen belustigten Blick zu. Sie trugen Jeans und schwarze T-Shirts. T-Shirts. Im März. In Nordengland. Superpraktisch. Und das genaue Gegenteil von der Kleidung, die sie vorgestern getragen hatten.„Was ist denn, Vio?" Ellie sah neugierig von mir zu den Jungs.
Doch ich war viel zu perplex um ihr antworten zu können. „Was macht ihr denn hier?"„Die Vorlesung fängt doch gleich an, oder nicht?" Ramiel erwiderte meinen Blick und ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen.
„Du hast Recht, Ramiel. Sie ist süß." Azael lehnte sich amüsiert zurück und meine Augen verengten sich zu Schlitzen.„Ihr habt gesagt...", begann ich, doch Ramiel unterbrach mich.
„Das war natürlich ein Scherz. Was sollte es denn sonst gewesen sein, Vio?" Er betonte meinen Namen, als würde er etwas wissen, was ich nicht wusste. Cael gluckste leise und ich warf ihm einen bösen Blick zu. „Nimm es ihnen nicht übel, sie hatten nicht besonders viel Spaß in ihrem bisherigen Leben."„Ist klar", erwiderte ich und strich meine Haare zurück.
Ramiel zog zischend die Luft ein und ich sah ihn fragend an. Azael und Cael wirkten plötzlich gar nicht mehr so lässig und entspannt. Ich sah von einem zum anderen und wandte mich dann kopfschüttelnd ab.„Wer ist das, Vio? Woher kennst du die? Hatten die was...?"
„Nein. Nein, hatten sie nicht", antwortete ich leise, während wir uns setzten. „Erkläre ich dir später." Otto-Peters betrat den Saal und stellte sich vor das Podium. Neben ihr stand eine bildschöne junge Frau in eleganter Kleidung, die uns aufmerksam musterte.Der Hörsaal hatte sich noch deutlich gefüllt und die 90 Plätze waren fast belegt. Bis auf Ramiel und seine Freunde waren nur vereinzelt männliche Personen anwesend.
Otto-Peters, die eigentlich Miss McFarlane hieß, die wir aber aufgrund ihrer feministischen Einstellung und ihre Vorliebe für Feministinnen des 19. Jahrhunderts nach einer benannt hatten, klopfte auf das Mikro. Sie begrüßte uns und stellte dann die Gastdozentin vor, eine berühmte Autorin und Feministin, die als erste Schwarze Autorin mit dem Booker Price ausgezeichnet wurde.
„Oh, ich habe auf einmal ein richtig gutes Gefühl für die Vorlesung!", flüsterte ich leise und schlug mein Notizbuch auf, dessen Umschlag ich mit feministischem und antirassistischem Sticker beklebt hatte.
„Ich auch!", erwiderte Ellie und dann sprachen wir die nächsten 90 Minuten kein Wort mehr, so gebannt waren wir von dem Vortrag. Ich kritzelte mir eine Seite nach der anderen voll. Lauter Buchempfehlungen, Zitate und andere wichtige Erkenntnisse, die mir entweder neu waren oder die man nicht oft genug hören konnte.
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Bereit für eine Lesenacht heute?🧡
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Crown of Fire
FantasyVio ist eine Weise, ihre Eltern tot und ihre Großmutter dement. Sie arbeitet in der Unibibliothek, um sich ihr Studium zu finanzieren und hat mit ihrer besten Freundin einen kleinen Buchclub eröffnet. Doch all das rückt in den Hintergrund, als sie v...