chapter 35

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Oh. Das war natürlich echt Mist. Richtiger Mist.

Und gleichzeitig fragte ich mich, wieso das so schlimm für ihn sein sollte. Hatte er mich nicht gestern erst in der Bibliothek stehen lassen? Dazu kam noch, dass mir Alicias und Olivias Kommentar einfiel, bei dem ich wusste, dass ich ihm keine Beachtung schenken sollte. Dennoch hatte er sich eingebrannt.

Ich blickte mich um, doch von Azalee war keine Spur mehr zu sehen. „Wieso bist du gestern abgehauen?", fragte ich.

„Das war nicht gestern. Das ist drei Tage her!", erwiderte Ramiel, ohne meine Frage zu beantworten. „Deine Freundinnen haben mir die Hölle heiß gemacht", beschwerte er sich stattdessen. „Sie haben mir aufgelauert und Azael verfolgt!" Ich hätte es witzig gefunden, wenn die Situation eine andere gewesen wäre.

„Wissen sie nicht, dass es mir gut geht?"
„Doch. Inzwischen schon", beschwichtigte er mich. „Azael hat ihnen Bescheid gesagt."

Ich atmete erleichtert aus. Nicht auszudenken, was sie sich für Sorgen gemacht haben. Und Azael war bestimmt überaus erfreut über diese Aufgabe. Nicht.

„Ramiel, du", begann ich. Doch er machte zwei große Schritte auf mich zu und tat dann etwas, was ich im Leben nicht erwartet hätte. Er umarmte mich.

So richtig. Er schlang beide Arme um mich und stützte seinen Kopf behutsam auf meinem ab und hielt mich fest. Sein ganzer Körper befand sich direkt an meinem und als wäre ein Schalter umgelegt, verschwand die Anspannung, die mich befallen hatte und gefangen hielt, seit ich in der Hölle gelandet war. Ich schmiegte mich an ihn. Atmete seinen Duft ein und erlaubte mir diesen Moment einfach zu genießen. Seine Wärme, seinen Atem, seine Hand, die sanft über meinen Rücken strich.

Er hielt mich fest, als müsste er sich überzeugen, dass ich tatsächlich da war und so schnell auch nicht wieder verschwinden würde.

Und ich hielt mich fest, weil ich endlich in Sicherheit war, weil ich endlich wieder frei atmen konnte und weil ich wusste, dass auch er in Sicherheit war. Obwohl ich sauer war und verletzt, zählte gerade nur, wie gut ich mich in seinen Armen fühlte.

Ich löste mich erst von ihm, als unsere Umarmung begann mir noch viel intimer vorzukommen, als sie eigentlich war. Weil meine Gedanken drohten abzudriften. Hin zu seinem Körper, seinem Mund, seinen Händen und ich an all das als allerletztes denken sollte. Seinem Blick ausweichend spielte ich mit dem Saum von Azalees Bluse.

„Das Outfit steht dir, Vio." Als ich zu ihm hochsah, wurde mir sofort ganz warm ums Herz, weil seine Augen wieder diesen funkelnden smaragdfarbenen Grünton eingenommen hatten, den ich so liebte.
„Es ist etwas eng", murmelte ich leise.

„Ganz und gar nicht. Es ist perfekt." Sein lockeres, freches Grinsen war zurückgekehrt und ich widersprach nicht, weil er recht hatte. Azalees Sachen saßen ausgesprochen gut. Besser als jedes meiner eigenen Kleidungsstücke.

„Also, wie komme ich hier wieder weg?", fragte ich zum einen um das Thema zu wechseln und zum anderen, weil ich nicht besonders viel Interesse hdaran atte anderen Dämonen über den Weg zu laufen. Ich war mir nämlich ziemlich sicher, dass Azalee und ihre Art mich zu begrüßen nicht dem Standard entsprechen würde.

„Nur um dich zu beruhigen. In eurer Welt bist du erst wenige Stunden verschwunden. Was gereicht hat, damit Ellie in den Notfallmodus schaltet. Hier unten läuft die Zeit allerdings etwas anders." Ich sah auf meine Uhr hinab, dessen Zeiger sich noch immer drehten. Ramiel folgte meinem Blick. „Woher hast du die? Gewöhnlich zerspringen menschliche Uhren in der Hölle."

„Sie hat meiner Mutter gehört. Sie hat sie von meinem Vater geschenkt bekommen." Ich erinnerte mich an ihren Geburtstag und den fehlgeschlagenen Versuch von meinem Vater eine Torte zu backen und sofort kehrte der Schmerz zurück.
„Was ist?" Ramiel sah sich alarmiert um.

„Als ich wieder zu mir gekommen bin", begann ich und ließ mich auf Azalees Chaiselongue sinken. „Da, war es als wäre ein weiterer Damm in mir gebrochen und ich habe mich an Dinge erinnert, die mit meiner Familie zu tun haben, die ich normalerweise niemals vergessen hätte." Ich strich über den samtweichen schwarzen Stoff.

„Wie mit der Erinnerung an die Existenz von Übernatürlichem?"
„Ja", antwortete ich. Nur viel schmerzhafter.

„Einige wenige übernatürliche Wesen verfügen über eine Magie, die Erinnerungen wegsperrt und bereits erlebtes vergessen lässt. Es wird nach Traumata und nur auf ausdrücklichen Wunsch angewendet. Es dürfte niemals gegen dich verwendet werden. Und wenn das getan wurde, dann..."

„muss es einen Grund dafür geben", beendete ich seinen Satz. Irgendetwas in meiner Vergangenheit hatte jemand anderen dazu veranlasst mir eine Gehirnwäsche zu verpassen, nur damit ich meine Erinnerung vergaß.

„Wir konnten sie nicht länger aufhalten", erklang Azaels Stimme und ich hörte die Schritte mehrerer Personen. Dämonen konnten lautlos gehen und da diese das nicht taten, wollten sie, dass man sie hörte.

Ramiels Miene veränderte sich. Er stand auf und entfernte sich von mir. Ich konnte dabei zusehen, wie er sich zurückzog, seine Emotionen wegsperrte. Sein neutraler, gelangweilter Gesichtsausdruck wurde lediglich von dem amüsierten Grinsen durchbrochen. Er hatte den Blick auf die Neuankömmlinge gerichtet, die soeben das Zimmer betraten.

„Offizier." Ramiel legte den Kopf schief. Seine Augen funkelten gefährlich. Der Angesprochene, augenscheinlich ein Dämon, verzog keine Miene unter Ramiels Blick. Er trug eine Art Rüstung. Schwere Stiefel, lederne Hosen, etwas, was ich als Kettenhemd beschreiben würde und ein Schwert samt Gürtel. Er war älter als Ramiel oder sah jedenfalls so aus. Zwischen 30 und 40 in Menschenjahren. Ein Umrechner wäre praktisch. So und so viele Menschenjahre sind so viele Dämonenjahre.

Der Offizier nickte kaum merklich. Seine Gesichtszüge waren scharfkantig, die Haare kurz, der Körper äußerst muskulös. Seine Haltung sprach Bände und ich entschied, dass es sicherlich klug war, sich nicht mit ihm anzulegen. Hinter ihm tauchten Azael und Cael auf und sahen besorgt von dem Offizier zu Ramiel.

„Du kennst die Regeln, Ramiel." Seine Stimme war aalglatt, doch seine Augen glitzerten bereits triumphierend.

Ramiel beachtete ihn nicht mehr, sondern schaute zu Cael und Azael. Mein Kopf begann wieder zu dröhnen. Das war mir einfach alles zu viel.

„Was für Regeln?" Forschend sah ich von Ramiel zu dem Offizier.
Dieser schien über meine Frage sehr erfreut. „Gut, dass du fragst, Viona! Jeder, der die Hölle betritt, muss sich würdig erweisen. Und um ebendies zu gewährleisten, gibt es einen kleinen Test. Ganz einfach."

War die Reise hierher nicht bereits Test genug?

„Sie ist nicht freiwillig hier", erklärte Ramiel zähneknirschend. Cael und Azael drängten sich an dem Offizier und seinem Gefolge vorbei, um sich neben Ramiel zu stellen.

„Das spielt keine Rolle. Sie ist hier und sie muss sich diesem Test stellen. Als Engelshalbling sollte sie nicht einmal die Reise in die Hölle überleben, geschweige denn die rote Ebene, aber in unsere Stadt gehört sie auf keinen Fall. Sie muss sich würdig erweisen. Jeder, der die Hölle betritt und kein Dämon ist, muss das. Die Prüfung wird morgen früh stattfinden."

Das klang jetzt schon ziemlich feindselig und etwas in seinem stechenden unangenehmen Blick sagte mir, dass dieser Offizier mich gerne tot sehen würde.

Tja, dachte ich mir, da wärst du nicht der Einzige!

Crown of FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt