chapter 64

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„Alle guten Dinge sind wild und frei." – Henry David Thoreau

Doch, ich täuschte mich, denn als ich Stunden später die Augen aufschlug, war die Sonne lange aufgegangen und mein Schlaf genauso erholsam wie die letzten Tage gewesen. Ramiel saß auf einem Sessel, eine dampfende Tasse in der Hand und ein Buch auf dem Schoß.

„Guten Morgen." Seine Stimme war rau und er lächelte, doch ich hatte den Eindruck, dass er, im Gegensatz zu mir, nicht gut geschlafen hatte. Wenn er überhaupt ein Auge zugetan hatte.

Ich räusperte mich. „Guten Morgen", erwiderte ich und schielte auf den Nachttisch, auf dem eine weitere dampfende Tasse stand. Ich würde meinen kleinen Finger darauf verwetten, dass es Kaffee mit aufgeschäumter Hafermilch war.

„Hast du gut geschlafen?"
„Erstaunlicherweise schon, und du?"
Ramiel kommentierte meinen herausfordernden Tonfall mit einem schiefen Grinsen. „Nicht ganz so gut", gab er zu.

Das war doch ein perfekter Einstieg, in ein Thema, was mir schon seit Tagen durch den Kopf kreiste. „Sag mal, Ramiel." Ich setzte mich auf und griff nach der Tasse. Überrascht bemerkte ich, dass es eine neue Tasse war. Die untere Hälfte bestand aus einem erdigen Ton, die obere aus glattgeschliffenem Porzellan. „Die hat absolut die perfekte Größe", staunte ich, als ich meine Hände um die henkellose Tasse legte.

Ramiel grinste selbstzufrieden. „Ich habe gehofft, dass sie dir gefällt." Er prostete mir mit seiner zu, dem exakten Ebenbild von meiner.

Ich setzte zu einem Dank ein, unterbrach mich dann aber. „Glaub nicht, dass diese Ablenkung noch länger funktioniert", warnte ich ihn grinsend. Ein nonchalantes Achselzucken war meine Antwort. „Also Ramiel, wie kommt es, dass du schläfst? Oder überhaupt Schlaf brauchst?" Ich hatte Azaels besorgten Tonfall, als er Ramiel schlafend im Sessel in meinem Studierzimmer gesehen hatte, noch allzu deutlich im Kopf.

„Vio..." Ramiel schloss gequält die Augen. Ich bereute meine Frage augenblicklich. Zumindest ein Teil von mir. Der andere wollte den Grund jetzt umso dringender wissen. Er war im Zwiespalt, trug einen inneren Kampf auf, bevor er die Augen wieder öffnete. „Ich möchte ehrlich zu dir sein, ich weiß, dass ich dir das schulde. Aber es gibt Dinge, die du nicht verstehen kannst. Noch nicht." Das Blut in meinen Adern gefror zu Eis und er schien das zu spüren, denn er hob besänftigend die Hände.

„Es geht mir im Moment nicht besonders gut. Meine Macht ist..." Er suchte nach den richtigen Worten. „Eingeschränkt." Sein Blick wanderte zu der Tasse in seinen Händen. „Wenn ich dir die genaueren Gründe erläutern würden, wäre das auch nicht hilfreich."

Ich schluckte. Ramiel sagte deutlich, dass es sehr persönlich war und dass es die Grenze überschreiten würde, die wir gezogen hatten. Und ich würde das respektieren. Versuchte ich mir jedenfalls einzureden. Doch eine hämische Stimme in mir sagte leise, dass er sein Versprechen mir gegenüber wohl schon jetzt bereute und die Grenzen austestete.

„Kommst du heute Abend wieder her, nachdem ihr auf dem Dach wart?" Ramiels hoffnungsvolle Stimme schoss mir direkt ins Herz. Ich nickte und trank endlich von meinem Kaffee und bemerkte zufrieden, dass ich meinen kleinen Finger würde behalten können.

„Mache ich." Wir hatten gestern nicht weiter über Chamuels Auftritt geredet. Ich glaube, wir mussten, dass beide erstmal sacken lassen. Ich auf jeden Fall. „Er hat es bestätigt, oder? Dass die Engel meinen Vater umgebracht haben. Und dann wahrscheinlich auch meine Mutter." Mein Blick wanderte zu der Uhr an meinem Handgelenk und ich dachte daran, wie oft ich sie als Kind am Handgelenk meiner Mutter bewundert hatte. Abends hatte sie sie immer auf ihren Nachttisch gelegt, neben ihrem Buch und dem Foto, das uns drei vor dem See in unserem Garten zeigte.

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