Ausweglos

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Tagsüber schien hier alles weniger bedrohlich, als in jener Nacht, in der sich Zhongli hier verlaufen hatte. Der Untergrund war trotzdem kein einladender Ort. Und nun war er wieder hier. Diesmal bewusst. Er blickte sich in verschiedene Richtungen um, während er versuchte, seine Orientierung wieder zu finden. Für einen Moment schloss er die Augen.

"Ja, da drüben war es", murmelte er und ging in die entsprechende Richtung. Wie erwartet, fand er dort die Tür und den umzäunten Innenhof vor.

"Alles klar. Dann wollen wir mal", meinte Xiao, der sich an die Tür machte, die verschlossen war. Zhongli atmete tief durch und fragte sich, was als nächstes passieren würde. Wie er gerade noch ruhig bleiben konnte, wusste er selbst nicht. Mit einem Geräusch sprang die Tür auf. Zhongli war sich bewusst, dass in jenem Moment die Fatui wussten, dass sie hier waren.

Langsam betrat er den leeren Hof. Er setzte jeden Schritt mit Bedacht. Plötzlich hörte er ein Geräusch, jemand verließ das Gebäude. Trotzdem blieb er stehen.

Als er bemerkte, dass es Childe war, atmete er erstmal auf. Sein Freund sah allerdings furchtbar aus. Fast so, als ob ihn jemand zusammen geschlagen hätte... blaue Flecken... Bissspuren. Nein. Das war etwas anderes. Doch bevor er mehr darüber nachdenken konnte, begann Childe zu sprechen.

"Was machst du denn hier? Verdammte Scheiße, hau ab!!", sagte er panisch.

"Nein. Werde ich nicht. Nicht ohne dich", erwiderte Zhongli möglichst ruhig.

"Was zum...?!! Du dürftest gar nicht hier sein!", entgegnete Childe verzweifelt. Dann ging er auf ihn zu und packte ihn am Arm. Zhongli bemerkte, dass er versuchte, ihn rauszuschieben.

"Ich bin aber hier. Du hast dich nicht mehr bei mir gemeldet, ich habe mir Sorgen gemacht", sagte Zhongli ruhig und blieb standhaft.

"Das wollte ich nicht", murmelte Childe zerknittert, "ich war in Umständen, in denen es mir nicht möglich war..."

Zhongli schaute ihn fragend an, dann bemerkte er sie. Die Druckstellen und Prellungen an seinen Handgelenken.

"Jemand hat dich gefesselt?", fragte er fassungslos. Was auch immer hier passiert war, er musste ihm helfen. Das war alles, woran er in diesem Moment denken konnte.

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Childe schwieg betreten. Das alles war ihm so unangenehm. Und dass sein Freund jetzt auch noch hier auftauchte, machte alles noch schlimmer. Er wusste gar nicht, was er jetzt machen sollte. Zhongli hatte gesagt, dass er sich um ihn gesorgt hatte, das verstand er ja auch. Aber jetzt machte er sich Sorgen um Zhongli. Dieser wusste wahrscheinlich gar nicht, in welche außerordentliche Gefahr er sich gerade begab. Deswegen musste er ihn schleunigst dazu bewegen, von hier zu verschwinden. Es würde sonst nicht sehr lange dauern, bis seine Anwesenheit bemerkt wurde.

"Ja. Ich erkläre dir das später, versprochen. Aber du musst hier weg. Bitte, vertrau mir... es ist hier nicht sicher", versuchte er möglichst sanft zu erklären.

"Das weiß ich selbst. Ich lass dich trotzdem nicht hier zurück, komm mit mir", sagte Zhongli leise. Für einen kurzen Moment zögerte Childe. Jetzt einfach gehen und das Gelände zu verlassen und nie wieder zurück zu kehren... er wusste, dass das nicht möglich war. Pulcinella würde ihn finden und er wäre so gut wie tot. Zhongli vermutlich auch.

"Das kann ich nicht!", erwiderte Childe und schüttelte den Kopf. Er war den Tränen nah, als sich die folgenden Worte von seinen Lippen quälten.

"Ich bin nicht der, für den du mich hältst. Du musst mich vergessen. Bitte..."

Vermutlich würde er ihn gleich anschreien. Ihm vorwerfen, dass er ihn die ganze Zeit nur benutzt hatte. Aber all das wäre besser, als wenn Zhongli etwas passierte. Wenn er nur gehen würde, ein glückliches Leben führen konnte, wäre Childe beruhigt, auch wenn das ohne ihn wäre. Er zitterte und ihm wurde schwer ums Herz. Doch Zhongli reagierte nicht so wie erwartet.

Er ging auf ihn zu und umarmte ihn fest. Childes Herz machte einen Hüpfer und so sehr wollte er ihn an sich drücken und nie wieder loslassen... vorsichtig legte er die Arme um den Mann, den er liebte...

"Ich weiß, wer du bist, Ajax. Das ist mir egal. Das ändert nichts an meinen Gefühlen", sagte Zhongli ernst und drückte sich an ihn. Childe war sprachlos. Und doch konnte er dem allen nicht entkommen... es war so surreal...

"Ich... ich versteh nicht... woher weißt du...", stammelte er und schob Zhongli von sich weg, während er verwirrt rückwärts tapste. Er wusste nicht genau, was hier passierte.

"Wenn das nicht die beiden Turteltauben sind", hörte er plötzlich eine gewisse Stimme hinter sich, während es ihm eiskalt über den Rücken lief und seine Atmung kurz stockte. Pulcinella.

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Zhongli hatte wirklich alles gegeben, um Childe – nein – Ajax zum Mitkommen zu bewegen, doch er hatte sich geweigert. Und jetzt wusste er auch warum. Der Typ, der auf sie zukam, schien seinen Freund eingeschüchtert zu haben. Möglicherweise war er einer der Drahtzieher der Fatui. Mit Sicherheit gefährlich. Doch Zhongli würde nicht wegrennen.

"Ich bin Ajax' Freund. Hast du ihm das angetan?", fragte Zhongli, deutete auf seine Blessuren und verschränkte die Arme.

"Süß. Vielleicht... aber das ist jetzt ganz egal", kommentierte Pulcinella und ging auf Childe zu.

"Bitte... ähm, ich kann das erklären", wisperte Childe und lächelte kläglich.

"So. Ganz ehrlich, was auch immer du sagst, ich will es nicht hören. Du weißt, dass das jetzt nicht mehr wichtig ist", sagte Pulcinella und zückte seinen Revolver.

"Tu ihm nichts, bitte, er kann nichts dafür!", flehte Childe.

"Du", sagte Pulcinella jedoch und erhob seine Waffe und richtete sie auf Zhongli. "Childe gehört mir, damit du das weißt... und was dich anbelangt, du mieses Stück Scheiße...", er bewegte seine Waffe in Richtung Childe, "wer weiß noch davon... warst du etwa bei den Bullen? Das wäre so unfassbar doof von dir. Aber so warst du schon immer..."

Zhongli schluckte schwer. Er wusste nur eines, dass er das nicht hinnehmen wollte. Am liebsten wäre er auf diesen aufgeblasenen Gockel losgegangen. Aber er noch musste Ruhe bewahren...

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Childe versuchte, sich um Kopf und Kragen zu reden und doch brachte es nichts. Nicht nur Zhongli, sondern auch vermutlich er selbst, würde nun anscheinend dem endgültigen Ende entgegenblicken.

"Bitte nicht. Ich war nicht bei den Bullen...du musst mir glauben", murmelte er zusammenhanglos und hoffte auf ein Wunder. Wie sehr hätte er sich gewünscht, er hätte den Mut aufbringen können, zur Polizei zu gehen. Auch wenn er dafür selbst ins Gefängnis kam... er wollte jetzt nicht sterben, er wollte nicht, dass Zhongli ...

"Lächerlich - weißt du was? Fahr zur Hölle", sagte Pulcinella grinsend und zielte.

"NEIN!!", schrie Zhongli und Childe konnte nur noch in seinem Sekundenbruchteil sehen, wie Zhongli sich vor ihn warf, um ihn zu schützen. Überrascht fasste er sich ins Gesicht.

Rettete Zhongli jetzt im Gegenzug ihn – in diesem lausigen Innenhof? Würde es so enden? Wäre es das letzte, was er von dieser Welt sah? Es ging viel zu schnell, als dass er Zhongli noch vor sich wegschieben konnte oder irgendwie reagieren konnte. Instinktiv warf er sich nach vorne und hoffte, noch etwas ausrichten zu können. Doch dann hörte nur er nur noch, wie ein Schuss sich löste...

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