1. Bye bye, die schöne Zeit ist vorbei

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'Im Abschiednehmen zeigt sich der Charakter.', hat mein Opa immer gesagt. Er war einer der intelligentesten Menschen, die ich bis jetzt kennengelernt habe. Er war kein Dichter, kein Denker und kein Philosoph. Trotzdem hat er mich inspiriert und er hatte immer einen Spruch auf Lager, über den man erst mal nachdenken musste. Vieles habe ich als Kind nicht verstanden, dafür tue ich es jetzt, zumindest ein bisschen besser, als früher. 'Abschied hat oft einen tiefen Sinn, denn er ist immer auch ein Neubeginn.', hat meine Oma einmal gesagt. Sie war ein Engel auf Erden, nicht schlauer oder besser, als jemand anderes, aber sie war ehrlich und hatte für jeden ein gutes Wort übrig. Niemals habe ich mitbekommen, dass sie schlecht über jemanden gesprochen hat. Und das alles, obwohl sie es auch nicht besonders einfach hatte. 'Nimm dir Zeit, Abschied zu nehmen, sonst holt dich der Abschied irgendwann ein und du wirst einen hohen Preis bezahlen.', hat der Bruder meines Opas gesagt. Er muss es wissen, denn er hat seinen Vater im Krieg verloren. „Charlie? Ich wollte mich noch von dir verabschieden. Danke, dass du uns hier so tatkräftig unterstützt hast, trotz diesem ranzigen Hungerlohn.", erklärt mir mein Lieblingskollege Marian. „Ich werde euch alle so sehr vermissen.", entgegne ich mit Tränen in den Augen. „Du kannst immer wieder zu uns kommen.", flüstert er und zwinkert mir zu. „Jetzt muss ich zuerst zwei Jahre lang wieder die Schulbank drücken.", erwidere ich und verdrehe genervt die Augen. „Du machst das für deine Zukunft, vergiss das nicht,", erinnert mich Marian. „Ja, das stimmt schon.", entgegne ich. Yara, eine unserer autistischen Bewohnerinnen, formt mit ihren Fingern ein Herz und ich fange an zu weinen. Marian nimmt mich in den Arm und tröstet mich. „Abschied tut immer weh, aber die Freude, wenn wir uns dann endlich wieder sehen, lässt uns den Schmerz bald vergessen.", erklärt er. Als ich das Haus verlasse, fühlt es sich so an, als würde ein kleiner Teil von mir sterben, ganz langsam, leise und heimlich. Eigentlich wäre es mir gar nicht aufgefallen, aber da ich in letzter Zeit sowieso total verletzlich bin, fühlt es sich an, als hätte ich mindestens tausend kleine Scherben im Herzen.

Als ich mein FSJ angefangen habe, konnte ich mir eigentlich noch gar nicht so wirklich vorstellen, was ich für den Rest meines Lebens arbeiten möchte. Jetzt weiß ich es. Ich möchte Heilerziehungspflegerin werden. Dass ich mit Menschen mit geistiger Beeinträchtigung arbeiten möchte, weiß ich tatsächlich schon seit meiner ersten Woche im FSJ. Für die Ausbildung habe ich mich allerdings erst vor ein paar Wochen entschieden, da mir die fünf Jahre doch schon sehr lange vorkommen. Ich bin absolut kein Fan von der Schule, meine Schulzeit war die Hölle. Dort habe ich die schlimmsten Jahre meines Lebens verbracht. Als ich dreizehn war, begann das Mobbing. Ich war nicht besser oder schlechter als die anderen, ich war einfach nur anders. Zum Beispiel habe ich lieber Bücher gelesen, statt mich zu schminken. Nachdem mein Opa gestorben war, habe ich lange Zeit nur schwarz getragen. In einer Zeit, in der alle anderen nur neonfarbige Klamotten getragen haben, bin ich dann natürlich ziemlich aufgefallen. Menschen waren mir nie besonders sympathisch, deswegen hatte ich nicht so viele Freunde, war nicht oft draußen und konnte bei den neuesten Trends nicht mitreden. Das hat wohl schon ausgereicht, um mich zum neuen Opfer der Nation zu erklären. Jahrelang habe ich gelitten, denn das war kein normales Mobbing. Ich bekam regelmäßig Morddrohungen und als sie dann auch noch herausgefunden haben, dass ich nicht hetero bin, war alles vorbei. Eine Zeit lang war ich nur mit einem Typen zusammen, um den anderen zu beweisen, dass ich doch hetero bin. Vielleicht wollte ich damit auch mich selbst überzeugen. Kleiner Spoiler, ich stehe einfach nicht auf Männer. Das Mobbing hat mich gezeichnet und deswegen habe ich lange überlegt, ob ich überhaupt wieder zur Schule gehen soll.

„Charlie, ich bin begeistert. Seit deinem FSJ bist du so viel erwachsener geworden.", lobt mich mein Vater. „Deine Mama wäre bestimmt stolz auf dich.", ergänzt Jessica, die Frau meines Vaters. Für den Kommentar möchte ich ihr am liebsten eine scheuern. Wie kann sie es wagen, meine Mutter zu erwähnen? Da ich einfach nicht schon wieder den nächsten großen Familienstreit provozieren möchte, sage ich nichts. Später rege ich mich natürlich bei meinem Bruder über sie auf. „Warum redet sie plötzlich über Mama?", frage ich mit Tränen in den Augen. „Sie ist eben ein unsensibles Miststück.", entgegnet Max. „Über wen redet ihr?", fragt unsere Schwester Tinka, die mit ihrer Friseurschere in der Tür steht. Vermutlich will sie wieder etwas Neues an meinen Haaren ausprobieren. „Jessica hat Mama erwähnt.", antwortet mein Bruder. „Na und? Was war daran jetzt so schlimm?", will Tinka wissen. „Alles.", entgegne ich tonlos. „Ach Charlie, gib ihr doch wenigstens mal eine Chance. Du hast sie von Anfang an gehasst, weil sie nicht Mama ist. Nur zu deiner Info, Mama ist schon seit Ewigkeiten nicht mehr hier. Und willst du es Papa wirklich verübeln, dass er sich neu verliebt hat?", erwidert meine Schwester. „Ja.", schieße ich zurück. „Jessi gibt sich wirklich Mühe mit dir. Sie kann doch auch nichts dafür, dass Mama tot ist. Willst du jetzt deswegen für den Rest deines Lebens wütend sein?", fragt sie. Max schaut mich kurz an, dann schiebt er unsere Schwester aus dem Zimmer und schließt die Tür ab. „Was für eine blöde Kuh. Aber sie war eben schon älter und sie kommt besser damit klar, warum auch immer. Dein Schmerz ist berechtigt und Papa, Jessica und Tinka sollten das einfach respektieren.", bestärkt er mich. Als unsere Mutter starb, war ich acht Jahre alt, Max war zehn und Tinka war zwölf. Manchmal bin ich ein bisschen eifersüchtig, dass sie so viel Zeit mit Mama hatte und ich nur so wenig. Danach fühle ich mich immer total schlecht, denn im Endeffekt hatte niemand genug Zeit mit ihr.

„Ich bin so stolz auf dich. Du hast dich wirklich verändert.", flüstert mein Bruder, als wir abends zusammen auf dem Dach sitzen und rauchen. Eigentlich wollten wir ja beide damit aufhören, aber der Dealer von Max hat einfach das beste Gras der Stadt. „Ja, laut Papa bin ich ja plötzlich erwachsen geworden. Als ob ich das nicht schon mit acht gewesen wäre, als wir Mama beerdigen mussten.", entgegne ich. „Charles, ich weiß, dass dich das belastet, aber Papa hat es bestimmt nicht böse gemeint.", versucht mein Bruder mich zu beschwichtigen. „Ohne scheiß Bro, du kannst stolz auf dich sein. Vor zehn Monaten wolltest du dich unbedingt noch Hannah bakern und jetzt schau dich an. Wie krass ist das denn bitteschön?", ergänzt Max und gibt mir eine Kopfnuss. „Aber was passiert, wenn ich wieder gemobbt werde? Wenn ich wieder fünf Jahre lang das Opfer bin? Darauf habe ich echt keine Lust.", gebe ich zu bedenken. „Ganz ehrlich, wenn es so sein sollte, dann scheiß auf die Idioten. Du bist etwas ganz besonderes und wer das nicht erkennt, ist komplett bescheuert. Damals warst du eben wirklich etwas weird, hast nur schwarz getragen und Bücher gelesen, die absolut nicht für dein Alter geeignet waren. Ich kann schon verstehen, dass die andern dich komisch fanden, aber was sie mit dir gemacht haben, ist richtig Scheiße.", entgegnet mein großer Bruder. Es war wirklich die Hölle, ich habe mindestens zwei Wochen am Stück die Schule geschwänzt, weil ich Angst hatte, wieder dorthin zu gehen. Das war zu einem Zeitpunkt, als Tinka und Max nicht mehr in der Schule waren. Eigentlich hat mich mein Bruder die ganze Zeit vor den Idioten beschützt, aber als er nicht mehr da war, war ich auf mich alleine gestellt. Ich wurde in Mülltonnen gesteckt, mir wurden die Haare angezündet und einmal wurde mir auch ein Messer in den Bauch gerammt. In der Notaufnahme wollten sie unbedingt wissen, was passiert ist, aber ich habe nichts gesagt, weil mir sowieso niemand geglaubt hätte. Zum Glück war ich damals noch dicker und mein Fettpolster hat meine Organe geschützt. Ich habe versucht, die Wahrheit zu sagen, ich habe es wirklich so oft probiert, aber es hat nichts gebracht. Nicht einmal meine Lehrer haben mich beschützt. Das halte ich ihnen bis heute vor und deswegen war ich verdammt froh, als ich endlich die Schule wechseln konnte. „Charlie, ist alles okay?", reißt er mich aus meinen Gedanken. „Ja klar, alles gut.", lüge ich. Die Sache von damals lässt mich aber immer noch nicht los. „Auf Weed lügst du noch schlechter, als sonst.", bemerkt Max und schaut mich nachdenklich an. Er kennt mich einfach zu gut. „Hey ihr süßen, rieche ich da etwa Weed?", fragt Tinka und setzt sich zu uns. „Was willst du denn plötzlich hier?", fragt Max angriffslustig. „Lass sie doch, wenn sie dann etwas netter ist.", entgegne ich und grinse. Unsere Schwester schaut mich finster an, aber unser Bruder bricht in schallendes Gelächter aus. Tinka nimmt einen tiefen Zug und dann lacht sie auch. Sie ist oft so ernst und tut so erwachsen, dabei weiß ich ganz genau, dass sie mindestens so verletzlich ist, wie ich. Eigentlich habe ich sie auch echt lieb, aber manchmal tut sie alles dafür, dass ich das vergesse.

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