„A shot in the dark. A past, lost in space. And where do I start? The past and the chase. You hunted me down, like a wolf, a predator. I felt like a deer in love lights.", singt Max gut gelaunt, als er meinen Rollstuhl in sein Auto einlädt. Dass dieser Typ immer singen muss, manchmal komme ich mir echt vor, wie in einem verdammten Musical. Er denkt er eigentlich, wer ist? Udo Lindenberg? „Es geht nach Hause, babygirl.", flötet er gut gelaunt und wie in einem absoluten Kitschfilm, findet er auch schnell das passende Lied. „I'm coming home, I'm coming home. Tell the world I'm coming home. Let the rain wash away all the pain of yesterday. I know my kingdom awaits and they've forgiven my mistakes. I'm coming home, I'm coming home. Tell the world that I'm coming.", singt er begeistert, während er aus dem Parkhaus des Krankenhauses fährt und dabei fast die Poller umnietet. Ich bin ehrlich gesagt einfach nur froh, endlich hier raus zu sein. Wir machen noch einen kurzen Halt an der Reeperbahn, mein Bruder möchte den Rollstuhl schieben, aber das lasse ich garantiert nicht zu. „Ich bin doch kein Totalausfall. Wenn ich mich irgendwann gar nicht mehr bewegen kann, kannst du meinen Rollstuhl gerne schieben, aber jetzt kann ich das noch alleine.", kläre ich ihn auf. Wir snacken noch ein Fischbrötchen und nehmen uns Franzbrötchen und Falafel für die Fahrt mit. Die Fahrt nach Hamburg hätte von mir aus ewig dauern können, aber die Fahrt nach Hause, möchte ich gerne so schnell wie möglich hinter mich bringen. Natürlich macht uns der liebe Verkehr einen Strich durch die Rechnung und wir stehen über vier Stunden im Stau. Dementsprechend kommen wir erst nach über zehn Stunden zu Hause an. Mein Bruder, dem sonst die Sonne aus dem Arsch scheint, hat auch keine gute Laune mehr. Wenigstens nervt er mich nicht mit seinem scheiß Gesang. „Wenn dieser Vollpfosten nichts in den nächsten paar Sekunden schneller fährt, muss ich denn aus dem Auto ziehen.", bemerkt mein Bruder, der sonst ein sehr ruhiger Autofahrer ist, denn ich bin die aggressive Autofahrerin. Innerlich muss ich lächeln, natürlich weiß ich, dass es meinem Bruder in dieser Situation absolut nicht gut geht und er deswegen so reagiert, aber ein bisschen witzig ist es schon, weil er mich sonst immer wegen meinen Ausdrücken und Aggressionen maßregelt, wenn er mein Beifahrer ist.
Als wir dann endlich in Frankfurt angekommen und es nur noch wenige Minuten sind, bis wir endlich zu Hause ankommen, entspannt sich mein Bruder. Als wir dann zu Hause angekommen sind und er aussteigen will, halte ich ihn noch kurz zurück und umarme ihn. „Danke für alles, das werde ich dir nie vergessen. Du bist der beste Bruder auf der ganzen Welt.", flüstere ich. Max grinst mich an. „Und du bist die beste Schwester auf dieser Welt.", entgegnet er. Dann holt er den Rollstuhl aus dem Kofferraum und sieht zu, wie ich mich angestrengt vom Auto in den Rollstuhl quäle, aber er hat schon verstanden, dass ich seine Hilfe nicht möchte. „Charlie!", brüllt meine Schwester und rennt auf mich zu. Sie umarmt mich, dabei erdrückt sie mich fast. „Hey, ich habe mich nicht operieren lassen und um mein Leben gekämpft, damit du mich jetzt zu Tode quetschen kannst.", bemerke ich sarkastisch. „Das ist überhaupt nicht witzig, ich hatte Angst um dich.", entgegnet Tinka und drückt mich noch ein kleines bisschen fester. Jetzt kommen auch mein Vater und seine Frau, beide umarmen mich und erzählen mir, was für eine wahnsinnige Angst sie um mich hatten. Ich verstehe das ganze Drama nicht. Natürlich, die OP war nicht gerade einfach, aber was für eine Wahl hatte ich denn? Nachdem wir gemeinsam gegessen haben und ich mich endlich in mein Zimmer verziehen konnte, rufe ich meine beste Freundin an. Auch Milla scheint sehr erleichtert zu sein, aber als ich im Krankenhaus war, hat sie sich nicht ein einziges Mal gemeldet. Das finde ich schon ziemlich doof, aber vielleicht hatte sie auch Angst, sich bei mir zu melden. Ich verstehe zwar nicht, warum sie davor hätte Angst haben sollen, aber ich lasse das jetzt einfach mal so stehen. „Ich darf mich jetzt erst mal nicht anstrengen. Könntest du mich vielleicht mal besuchen kommen, wenn du Zeit hast?", frage ich hoffnungsvoll. „Charlie, das ist glaube ich keine gute Idee. Ich bin total im Stress und außerdem weißt du doch, dass ich keine guten Erinnerungen an Frankfurt habe. Ich will nicht zurück nach Frankfurt. Wenn es dir besser geht, kannst du mich gerne besuchen kommen.", entgegnet sie und ich spüre einen kleinen Stich im Herzen. Wow, sie kann also nicht einmal über ihren Schatten springen, um mich zu besuchen. Das tut weh. Ich beende das Gespräch dann auch relativ schnell, weil ich wirklich kurz vorm heulen bin. Als ich Max davon erzähle, ist er fassungslos. „Ist das ihr scheiß Ernst? Charlie, ich kann nicht verstehen, wieso du überhaupt noch mit ihr befreundet bist. Du besuchst sie immer, sie macht rein gar nichts für dich und wenn es einmal nicht nach ihrer Nase geht, redet sie dir Schuldgefühle ein. Das hast du nicht verdient.", bemerkt er und nimmt mich in den Arm.
„Und warum ist die Defizitorientierung in der Heilpädagogik heute nicht mehr zeitgemäß?", fragt mich Tinka ab. „Weil man irgendwann bemerkt hat, dass man sich eher an den Ressourcen orientieren sollte, statt an den Defiziten eines Menschen?", antworte ich, bin mir aber nicht ganz sicher. „Genau. Und in welchem Bereich der Pflege hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden?", fragt Max. „Im Bereich der Fürsorge und der fremdbestimmten Hilfe, die in der Regel eher entmündigend ist. Von der Fremdbestimmung soll man zur größtmöglichen Selbstbestimmung kommen. Das bedeutet, dass man je nach Kognition eine Auswahl trifft und den Klienten entscheiden lässt. Das wäre dann quasi auch schon Selbstbestimmung im Rahmen der kognitiven Möglichkeiten des Klienten.", erkläre ich und mein Bruder grinst mich an. „Na also, du bist doch gar nicht so doof, wie du eigentlich aussiehst.", bemerkt meine Schwester und grinst. Dafür könnte ich ihr eine scheuern. „Wenigstens sieht sie nicht aus, wie eine Plastikpuppe, im Gegensatz zu dir.", schießt mein Bruder zurück. Bevor sich die beiden komplett zerfleischen, machen wir lieber mit dem Unterrichtsstoff weiter, den ich verpasst habe. „Charlie, wie setzt man eine sozialintegrierende Assistenz um?", fragt mich meine Schwester weiter ab. „Menschen mit Behinderungen sollen an der Gesellschaft teilhaben können, das ist der Grundgedanke der Eingliederungshilfe. Regeln und Normen müssen von ihnen allerdings vorher erlernt werden, wenn sie noch nicht erlernt wurden. Bei der sozialintegrierenden Assistenz unterstützt man die Klienten so lange, bis sie die Assistenz nicht mehr benötigen und es alleine schaffen.", antworte ich. „Wow, kann es sein, dass du dein gesamtes Lehrbuch gefressen hast? Die Antwort ist schon nahezu perfekt. Du bist wohl doch ein kleiner Streber.", entgegnet Tinka, die sich nie so wirklich für die Schule oder ihre Noten interessiert hat. „Du bist so schlau, du musst dir wirklich gar keine Sorgen machen. Du wirst das definitiv schaffen und wenn du Hilfe brauchst, sind wir immer für dich da.", bestärkt mich Max, der ganz genau weiß, welche Gedanken mir gerade im Kopf umher schwirren. Wir lernen noch eine ganze Weile weiter und langsam komme ich an meine Grenzen, ich habe noch ziemliche Kopfschmerzen, aber ich möchte keine Betäubungsmittel mehr nehmen. Von Opiaten habe ich nämlich die Schnauze gestrichen voll.
„Ich will endlich wieder in die Schule.", bemerke ich deprimiert beim Abendessen. „Charlotte, du weißt doch ganz genau, was dein Arzt gesagt hat. Du sollst dich erst mal nicht anstrengen, ich bin auch gar nicht mal so begeistert davon, dass du schon anfängst, für die Schule zu lernen. Du solltest dich erst noch ein bisschen entspannen und ausruhen. Die Operation war ziemlich schwierig und du bist einfach noch nicht soweit.", entgegnet Jessica. Was bildet sich diese Frau eigentlich ein? Denkt sie ernsthaft, sie kann meine Mutter ersetzen? Da hat sie sich aber ziemlich tief geschnitten. Es ist zwar schon lieb, dass sie sich Sorgen um mich macht, aber sie soll sich nicht als meine Mutter aufspielen. Es ist schon schlimm genug, dass mein Vater überhaupt eine neue Frau hat. „Du kannst bestimmt bald wieder zur Schule gehen, aber Jessica hat Recht, bitte ruhe dich noch ein bisschen aus.", pflichtet er seiner Frau bei. Ich war über einen Monat im Krankenhaus, ich muss auch mal wieder etwas anderes sehen. Dass ich wieder zu Hause bin, ist zwar schön, aber langsam kommt mir mein Zuhause auch vor, als wäre es ein Gefängnis. Ich darf nicht raus, ich darf nicht lernen, ich darf keine Filme und Serien schauen, denn das könnte ja meinen Kopf zu sehr anstrengen. Ich darf nicht rauchen, ich darf keine zuckerhaltigen Getränke trinken, Energy ist sowieso verboten und Jessica kocht nur noch gesund für mich. Nach vier Monaten, die ich in meiner persönlichen Hölle verbracht habe, darf ich endlich wieder zur Schule. Auf dem Weg hole ich mir erst einmal ein süßes Teilchen und einen Energy, außerdem rauche ich. Das ist vielleicht nicht die beste Idee, aber nachdem mir Monate lang alles verboten wurde, was mir auch nur irgendwie Spaß gemacht hat, muss ich ein bisschen rebellieren. Der Rauch in meiner Lunge fühlt sich so unfassbar gut an und auch der Zucker, ich spüre, wie mein Blutzucker ansteigt und mein Herz vom Koffein schneller schlägt, ich bin endlich wieder ansatzweise glücklich. Max hat mich zur Schule gefahren und er hat auch beim Bäcker angehalten. Er hält auch nicht besonders viel davon, dass Jessica mir nur gedünstetes Gemüse und weißes Fleisch vorsetzt. Mal ganz davon abgesehen, dass ich eigentlich gar kein Fleisch esse. Sie versucht mich aber dazu zu zwingen, weil es ja so gesund ist, angeblich. „Bist du bereit?", fragt er und ich nicke. Dann mache ich mich auf den Weg zu meinem Klassenraum.
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Serotonin | LGBTQ
Novela Juvenil»Die schlimmste Art, einen Menschen zu vermissen ist, neben ihm zu sitzen und zu wissen, dass er niemals dir gehören wird.« Ich liebte Mavis mit jeder Faser meines Körpers, aber für mich war sie unerreichbar. Vielleicht liebte ich sie deswegen noch...