3. Kleine Fluchten

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„Jetzt stell dich doch nicht so an, Charlotte. Wenn ich nur höre, wie du schon wieder reagierst, könnte man nicht denken, dass du die Enkelin deiner Oma bist.", beschwert sich mein Vater. Wow, der Spruch hat gesessen. Auch, dass er mich mit meinem richtigen Namen angesprochen hat und nicht mit meinem Spitznamen, zeig mir wieder einmal, wie sehr er sich von Jessica beeinflussen lässt. Das mit meiner Oma hat mich schon hart getroffen. Sie hat damals in der DDR gelebt und weil sie nicht das getan hat, was dieser Drecksstaat wollte, wurde sie im Frauenzuchthaus Hoheneck inhaftiert. Sie durfte dort nicht einmal entscheiden, wie sie beim Schlafen liegen möchte. „Massen von Frauen, mindestens dreißig in unserem 'Verwahrraum', wie die Zellen genannt wurden. Es gibt keinen Namen für die dreifach aufgestockten Betten, wo die Neuzugänge unten anfangen und sich dann bis zur Entlassung hochschlafen. Kontrollierter Bettenbau, tags durfte man nicht in den Betten liegen, Stühle gab es zu wenig.", hat meine Oma einmal erklärt. Als Kinder hingen wir wie gebannt an ihren Lippen, aber ich denke, dass ich die einzige war, die die Worte so in sich aufgesogen hat. „Zur Steigerung der sozialistischen Produktion wurden die Gefangenen selbst noch verkauft. Pro Kopf bezahlte der Westen fünfzigtausend bis neunzigtausend Westmark für eine Gefangene, je nach Strafmaß und Ausbildung.", hat sie mir später erklärt. Was für ein abgefucktes System. Dort wurde meine Oma wie eine kriminelle behandelt, für mich ist sie allerdings eine Heldin. Deswegen trifft mich der Spruch meines Vaters an einer Stelle, an der normale Menschen ein Herz haben und ich nur einen kalten, dunklen Fleck. „Charlie, das hat er bestimmt nicht so gemeint.", versucht mich Tinka zu beruhigen, aber ich will mich gar nicht beruhigen. „Bist du jetzt zufrieden?", herrscht sie unseren Vater an, der in diesem Moment wohl selbst merkt, was er da eigentlich gesagt hat und dass er mich damit ziemlich verletzt hat.

„Hallo, ich hätte gerne ein Ticket für den nächsten ICE nach Hamburg.", bitte ich die Frau am Schalter. „Und wann wollen Sie zurückfahren?", fragt sie. „Das weiß ich noch nicht, ich hätte gerne erst mal ein Einzelticket.", entgegne ich. „Dir ist hier wohl alles zu viel, oder? Bist du überhaupt schon achtzehn?", fragt sie weiter. „Ja, bin ich. Und ich würde gerne mit Karte zahlen.", erwidere ich, ohne weiter auf die Frau einzugehen. Als ich dann endlich das Ticket in der Hand halte und mich auf den Weg zum Gleis sieben mache, von dem ich immer abfahre, wenn ich meinen besten Freund besuche, holt mich die nähere Vergangenheit wieder ein. Ich liebe meinen Vater über alles, eine Zeit lang war er der einzige, dem ich alles anvertrauen konnte, abgesehen von meinem Bruder natürlich. Aber für seine Aktion, die er vor ungefähr einer halben Stunde gebracht hat, könnte ich ihm sowas von ins Gesicht schlagen. Ich würde niemals jemandem etwas antun, aber manchmal machen mir meine Gedanken schon ziemlich Angst. Deswegen versuche ich auch schnell an etwas anderes zu denken, zum Beispiel in Hamburg, an Levi und die Zeit, die wir dort gemeinsam verbringen werden. Die nächsten viereinhalb Stunden höre ich Musik, schaue endlich mal meine Lieblingsserie weiter, und ich zeichne auch ein bisschen, zum ersten Mal seit langem. „Du, Levi, ich muss mal mit dir reden. Du hast ja gesagt, dass ich immer zu dir kommen kann, dass du immer für mich da bist. Ich bin auf dem Weg zu dir und ich bin in ungefähr zwei Stunden da.", erkläre ich. „Charlie, es ist halb zwei. Ich würde eigentlich gerne schlafen. Ruf mich einfach an, kurz bevor du da bist, dann hole ich dich ab.", nuschelt mein bester Freund in sein Handy und legt dann auf.

Levi ist mein bester Freund, seit ich denken kann. Wir haben ihn damals im Kindergarten zum ersten Mal gesehen und irgendwie war es Liebe auf den ersten Blick. Ich weiß noch ganz genau, dass Levi von einem anderen Kind geärgert wurde und ich dem Kind mit der Schaufel voll ins Gesicht geschlagen habe. Das war nicht unbedingt meine Glanzstunde, aber ich habe ihn verteidigt und seitdem ist er mein bester Freund. Levi wurde als Kind vernachlässigt, mit drei Jahren kam er in eine Pflegefamilie, mit vier Jahren ins Kinderheim. Eigentlich war immer öfter bei mir, als dort. Mein Vater hat ihn sozusagen adoptiert. Dass wir ihn nicht in Wirklichkeit adoptieren konnten, hat mich ganz schön fertig gemacht. Ich war sauer auf meinen Vater, dann auf das Jugendamt und den gesamten deutschen Staat, wegen dem wir Levi nicht zu uns holen konnten. Wir waren unzertrennlich, im Kindergarten, in der Grundschule, selbst in der Realschule. Wir waren wie siamesische Zwillinge, man hat uns nie alleine angetroffen. Ich habe damals sogar extra die Klasse wegen ihm wiederholt, beziehungsweise habe ich mit Absicht schlechte Noten geschrieben, damit wir beide die Klasse wiederholen können und nicht nur er. Irgendwann ist er dann abgehauen, weil er seinen inneren Dämonen nicht mehr standhalten konnte. Levi hat versucht, sich das Leben zu nehmen und von heute auf morgen ist er einfach nach Hamburg abgehauen. Ich hätte ihn damals umbringen können, aber mittlerweile habe ich mich mit dem Gedanken angefreundet. Wir telefonieren fast täglich und solange er glücklich ist, bin ich es auch.

Tatsächlich steht er schon am Bahngleis, als ich ankomme. Das ist einer der Gründe, warum ich meinen besten Freund liebe. Wäre er eine Frau, wären wir das absolute Traumpaar, zumindest glaube ich das. Manchmal denke ich auch, dass wir einfach zu gestört sind, um Partner, beziehungsweise Partnerinnen zu finden, die uns so akzeptieren, wie wir sind. „Wie schlimm war es diesmal?", fragt er, als ich mich weinend in seine Arme fallen lasse. „Ist es wegen deiner Mama?", fragt er. „Nein, mein Papa hat es einfach mal wieder richtig übertrieben. Ich liebe ihn, aber er ist manchmal so wahnsinnig toxisch.", entgegne ich. „Hast du Hunger? Wir könnten frühstücken gehen.", schlägt Levi vor, der sich noch ganz genau daran erinnern kann, dass ich immer etwas essen muss, wenn ich traurig bin. „Wo kann man bitteschön um halb vier frühstücken?", frage ich verwirrt. „Wir könnten entweder hier zum Bäcker gehen, oder wir fahren ein bisschen und dann bekommst du die leckersten Franzbrötchen, die du in deinem ganzen Leben essen wirst. Außerdem gibt es bei diesem Bäcker den geilsten Caramel Macchiato ever.", erklärt er. Dann erzählt er mir, dass er in seiner Anfangszeit in Hamburg nachts nicht richtig schlafen konnte, irgendwann durch die Straßen gelaufen ist und diese wahnsinnig coole Bäckerei entdeckt hat, die auch schon um diese Uhrzeit offen hat. Also fahren wir mit der U-Bahn hin und mein bester Freund hat nicht zu viel versprochen. Ich habe schon einmal ein Franzbrötchen am Bahnhof gegessen, bei meinem letzten Besuch hier, aber diese Franzbrötchen sind einfach genial. Am liebsten würde ich eine Petition starten, dass es Franzbrötchen auch standardmäßig in Süddeutschland geben soll. „Vamos a la playa, a mí me gusta bailar. El ritmo de la noche, sounds of fiesta. You know we go, where the feeling is right. You know we go, where the groove is hot. You know we go, where the feeling is right.", brüllt mein bester Freund, als wir abends sein altes Singstar spielen. Ich bin keine besonders gute Sängerin, ehrlich gesagt würde es mich nicht wundern, wenn alle Katzen in der Umgebung sterben würden, wenn ich anfange zu singen. Das ist mir in diesem Moment aber scheißegal.

Am nächsten Morgen schalte ich mein Handy wieder an und habe ungefähr dreißig verpasste Anrufe von meinem Vater. Normalerweise schalte ich mein Handy nie aus, weil ich schon ein verdammter Junkie bin, aber er hat im Laufe des Tages so oft angerufen und es hat mich so genervt, dass ich mein Handy dann ausgeschaltet habe. Ich sehe gar nicht ein, warum ich überhaupt mit ihm sprechen soll. Hätte er sich besser mal vorher überlegt, was er zu mir sagt. Er weiß ganz genau, dass das mein wunder Punkt ist, genauso wie das mit meiner Mama. „Charlie, ich weiß ja, dass du dich mit deinem Papa nicht immer verstehst und dass er auch ziemlich toxisch sein kann, aber denk immer daran, dass du eine Familie hast, ich hatte das nie und ich hätte alles dafür gegeben, eine richtige Familie zu haben.", gibt mein bester Freund zu bedenken. Irgendwie hat er ja schon recht, in meinem tiefsten Inneren weiß ich das auch, aber ich bin eben ein Sturkopf, genauso wie mein Vater. Aber dass er mich anruft, bedeutet zumindest, dass er sich Gedanken über sein Verhalten gemacht hat. Ein paar Minuten später ruft mein großer Bruder an. In kann ich nicht ignorieren, also gehe ich an mein Handy. „Hey, Charliecorn, ich gehe mal davon aus, dass du bei Milla oder bei Levi bist, also mache ich mir nicht so viele Sorgen, wie unser Vater. Trotzdem wollte ich mal nachfragen, wie es dir geht und wann du gedenkst, nach Hause zu kommen. Papa macht sich verdammt viele Sorgen um dich, so besorgt habe ich ihn schon seit Jahren nicht mehr gesehen.", bemerkt er. „Dann hätte er sich besser mal überlegen sollen, wie er mit mir redet und was er so zu mir sagt.", antworte ich mit zitternder Stimme. Mein Bruder schaffte es, mich soweit zu beruhigen, aber nach Hause möchte ich trotzdem nicht kommen. Ich erkläre ihm, dass ich noch mal für ein paar Tage zu Milla fahre. So ist Max beruhigt und er kann auch gerne mit unserem Vater darüber reden, aber ich werde vorerst nicht mit ihm sprechen. Levi hätte zwar gerne gehabt, dass ich mich mit meinem Vater ausspreche, aber das kann ich ja noch machen, wenn ich wieder zurück bin. Zuerst einmal muss ich mich komplett beruhigen, bis ich diesem Typen wieder unter die Augen trete.

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