„Nein, Nancy, das geht so nicht. Du arbeitest seit eineinhalb Jahren hier und hast immer noch die Abläufe nicht richtig verstanden. Irgendwann musst du doch richtig eingearbeitet sein. Ich kann dir gerne noch mal erklären, wie das geht, aber du musst das auch irgendwann selbst können.", ertönt die Stimme von meiner Anleitung Dana aus dem Büro. Eigentlich wollte ich gerade meine Tasche einschließen und mir einen Kaffee machen, aber ich lasse die beiden lieber mal alleine. Nach ungefähr drei Minuten verlässt Nancy das Büro und knallt die Tür hinter sich zu. „Hey, ist alles okay bei dir?", frage ich vorsichtig. „Hallo Charlie, ich weiß ja nicht, ob du mit Dana klarkommst, aber ich kann das nicht. Sie denkt, dass sie perfekt ist, aber sie macht auch Fehler. Trotzdem hält sie mir meine Fehler immer wieder vor, statt einfach zu sagen, dass das zwar ein Fehler war, aber dass sie mir zum Beispiel noch mal erklären kann, was ich genau machen muss. Sie hat zwar gerade zu mir gesagt, dass sie mir alles noch einmal erklären kann, aber dieser Unterton hat mich wahnsinnig gemacht. Sie stellt mich da, als wäre ich dumm, als könnte ich gar nichts.", sprudelt es aus meiner Kollegin heraus. Nancy ist so vollkommen außer sich, dass ich sie gar nicht beruhigen kann, also nehme ich sie in den Arm. Ich kenne das Gefühl, wenn jemand permanent so tut, als könnte man gar nichts. Das ist ein richtig blödes Gefühl und Nancy tut mir gerade richtig leid. Dana ist nun einmal sehr perfektionistisch und in der zwischenmenschlichen Kommunikation ist sie nicht allzu begabt, da kann man schnell etwas falsch verstehen oder vielleicht drückt sie sich auch manchmal falsch aus. In den nächsten Tagen bekomme ich mit, wie sich Dana und Nancy immer wieder aus dem Weg gehen, die negative Stimmung scheint also nicht nur von Nancy auszugehen.
„Hey Charlie, Kaya ist für die nächsten zwei Wochen krankgeschrieben, könntest du einen Dienst von ihr übernehmen?", fragt meine Kollegin Daria am Freitag. Ich nicke und sie trägt mich freudestrahlend in den Dienstplan ein. Ich vermisse Kaya. Und zum ersten Mal vermisse ich sie und nicht die Idee von ihr, nicht die Vorstellung davon, wie ich gerne hätte, dass sie ist. Sie ist wie ein Blatt. Ein weißes Blatt Papier. Ein leeres Blatt Papier, das von ihr beschrieben wird. Nur von ihr. Aber nur so lange sie den Stift in der Hand hält, kann sie ihr Leben selbst schreiben. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie gar nicht die Kontrolle hat, die sie immer vorgibt zu haben und ehe sie sich versieht, schreibt jemand anderes einen Teil ihrer Geschichte, auch wenn sie sich gar nicht bewusst dazu entschließt. Solange man einen Menschen in seinem Leben lässt, hat er die Chance, das Papier zu beschreiben. Den Teil auf dem Papier kann man nicht mehr weg radieren, man kann zwar versuchen, etwas Neues darüber zu kleben, aber letztendlich muss man akzeptieren, dass das nun ein Teil der Geschichte ist, der einen zu dem macht, was man irgendwann ist. Das alles fühlt sich nicht real an, ich fühle mich nicht real an. Manchmal vergleiche ich mit mein Borderline mit dem Farbkasten des Lebens, von tiefschwarz, bis grell pink, lieben und leiden in einem Augenblick, ohne dass auch nur eine Nuance verloren geht. Borderline ist wie ein Leben ohne feste Wurzeln, es bedeutet manchmal, ein Kind im Körper eines Erwachsenen zu sein, das verzweifelt nach seiner Mutter sucht. Borderline bedeutet, Kilometer weit zu wandern und trotzdem immer am selben Abgrund anzukommen. Borderline ist wie eine Reise in einem rasenden Zug, dessen Notbremse defekt ist. Ich will mich endlich wieder normal fühlen, will mich ganz normal in jemanden verlieben, eine aufregende Kennenlernenphase haben, irgendwann eine feste Beziehung eingehen, eine Person haben, die mich so liebt, wie ich sie liebe. An den meisten Tagen komme ich mit meinem Borderline ganz gut klar, aber an Tagen wie heute, könnte ich regelrecht ausrasten. Ich weiß nicht mal, ob ich traurig oder wütend bin, wahrscheinlich bin ich beides.
Kaya weiß nichts davon, aber ich muss jedes Mal lächeln, wenn ich sehe, dass wir zusammen Dienst haben, dass sie mir geschrieben hat oder auch nur, wenn ich sie einmal kurz sehe. Ich verliere mich jedes Mal aufs Neue in ihren Augen. Ich vermisse sie jeden Tag mehr und freue mich wie ein kleines Kind, wenn ich weiß, dass ich sie sehen werde. Sie macht mich glücklicher als jeder andere, ohne überhaupt davon zu wissen. Bei ihr fühle ich mich sicher. Wenn ich sie sehe, fühle ich mich wohl. Ich bekomme Schmetterlinge im Bauch, wenn ich sie sehe. Vor lauter Liebeskummer, fühlt es sich so an, als würde ich in meinen Träumen sterben, deswegen schlafe ich kaum noch. Ich würde Kaya so gerne zeigen, was ich für sie fühle, aber ich kann es nicht. Trotzdem werde ich wahrscheinlich niemals aufhören, sie zu lieben. Ich fühle, wie eine Hälfte von mir fehlt, immer dann, wenn ich sie nicht sehe. Sie könnte mich mitten in der Nacht anrufen und das wäre mir egal. Für sie hatte ich immer Zeit und selbst wenn nicht, würde ich mir diese Zeit für sie nehmen. Ganz egal, was ich versuche, es wird niemals so werden, wie es vorher war. Die Zeit hat gar nichts verändert, es tut immer noch weh und nein, das ist nicht gerecht. Auch wenn ich früher das Gefühl hatte, dass ich alles schlechte auf dieser Welt verdiene. Ich würde ihr so gerne sagen, dass sie ein Teil von mir ist und auch für immer bleiben wird. Mit ihr ging der Sommer. Als die Blätter in schmutziges gelb annahmen, starb auch ein Teil von mir. Jetzt kann ich nur noch pausenlos die Decke anstarren und über Kaya nachdenken. Die Tage werden anstrengender, länger und dunkler und während ihre Stimme und die Sonnenstrahlen in meinem Leben fehlen, wirkt die Tatsache, dass der Sommer und sie irgendwie geschafft haben, in mein Leben zu treten, fast schon wie ein Wunder. Und plötzlich sind beide verschwunden. Jetzt bin ich hier alleine, mit einem gebrochenen Herzen voller Wunden, die Kaya anfangs heilen konnte.
„Und wie geht es dir jetzt?", fragt Kaya. Kurz vor der Operation habe ich mit dir über meine Gesundheit gesprochen und sie hat mir Mut gemacht. Ich antworte ehrlich, dass es mich ziemlich ankotzt, dass ich innerhalb kürzester Zeit wieder einmal am Hirn operiert werden musste. „Aber weißt du, jetzt bist du wenigstens wieder zu einhundert Prozent gesund und kannst wieder dein Leben genießen. Hättest du die Operation abgelehnt, weiß ich nicht, was passiert wäre.", bemerkt meine Kollegin. „Das stimmt schon. Aber stell dir vor, jetzt darf ich drei Monate kein Auto fahren und das nur, weil sie mir am Hirn herumgeschnippelt haben. Aber du hast definitiv recht, ich weiß auch nicht, was passiert wäre, wenn ich die OP nicht gemacht hätte.", überlege ich und werde sehr nachdenklich. „Die Gesundheit ist das wichtigste, was du hast. In meiner Jugend habe ich auch auf meinen Körper geschissen und jetzt muss ich die Konsequenzen tragen.", erklärt meine Kollegin. Kaya hat mir irgendwann mal gesagt, dass sie Diabetes hat, aber nicht, wodurch sie ihn bekommen hat, da gibt es ja verschiedene Möglichkeiten. Kaya hat schon recht, die Gesundheit ist das Wichtigste, was ein Mensch hat. Als ich diese blöden Krampfanfälle hatte, hätte ich nicht gedacht, dass sich das jemals wieder verbessert, aber es ist besser geworden und dafür sollte ich wahrscheinlich ziemlich dankbar sein. Wir reden noch eine Weile miteinander, dann habe ich Feierabend und Max holt mich von der Arbeit ab. „Du grinst ununterbrochen. Was ist los? Warum hast du so gute Laune?", fragt er überrascht. „Die Arbeit war heute ziemlich schön und ich konnte mit einer meiner Lieblingskolleginnen unterhalten.", antworte ich wahrheitsgemäß. „Bist du in diese Kollegin verliebt?", fragt mein großer Bruder. „Ach Quatsch, wir verstehen uns einfach nur gut und sie ist ziemlich schlau. Wie sie mit den Bewohnern umgeht, ist richtig cool.", entgegne ich und beende damit die Diskussion, bevor sie richtig angefangen hat.
„Charlie, hast du das gemacht?", fragt meine Kollegin Tina. Da ich nicht besonders gut im lügen bin und Fehler auch eigentlich gar nicht so schlimm sind, dass man sie unbedingt vertuschen muss, gebe ich meinen Fehler zu. Das hätte ich wohl besser nicht getan, denn meine Kollegin macht mich richtig zur Schnecke. Nachdem sie mich angeschissen hat, verdreht sie die Augen und verlässt die Situation. Wow, das nenne ich mal empathisch. Und das war Sarkasmus, denn sie hat mir weder zugehört, noch gefragt, ob sie mir das noch mal erklären soll, sie ist nicht mal ansatzweise auf mich eingegangen und das stört mich ziemlich. Sie arbeitet im pädagogischen Bereich, da sollte man sich selbst unter Kontrolle haben und anderen gegenüber etwas Empathie zeigen. Ich erwarte nicht, dass sie mich in den Arm nimmt und tröstet, das fände ich ehrlich gesagt ziemlich übergriffig, aber sie hätte mir wenigstens zuhören können. „Mach dir nichts daraus, deine Kollegin ist einfach nur eine ziemlich dumme Kuh, wahrscheinlich hat sie zu Hause Stress und muss den irgendwie auf der Arbeit los werden. Solche Kollegen habe ich auch, die muss man ignorieren oder, wenn man sich mental dazu in der Lage fühlt, sollte man denen sagen, dass die komplette Scheiße gebaut haben. Empathie und die richtige Kommunikation ist in unserem Beruf so wichtig, aber die meisten vergessen das leider.", tröstet mich Naomi. Die Kollegin scheint mich aber in letzter Zeit echt nicht gut leiden zu können, denn bei allem, was schief läuft, fragt sie mich, ob ich das gemacht habe. Auch wenn ich es gar nicht getan haben kann, weil ich zu der Zeit kein Dienst hatte oder in der Uni war. Mich regt es schon ziemlich auf, aber ich besitze nicht die soziale Kompetenz, ihr das zu sagen. Insgeheim hoffe ich, dass sie es irgendwann von alleine merkt, aber da kann ich wohl lange warten. „Als ich noch in der Ausbildung war, haben sie mich auch wie Scheiße behandelt. Jetzt ist es etwas anderes, jetzt können sie mich nicht mehr so behandeln. Vor allem verstehe ich nicht, warum sie so scheiße zu dir ist, du bist immerhin eine Fachkraft, hast du eine abgeschlossene Ausbildung in dem Bereich und willst dich jetzt noch durch ein Studium weiterbilden, daran ist auch nichts falsch und deswegen sollte man dich nicht behandeln, als wärst du ein Kleinkind.", bemerkt Rachel. Ich hoffe nur, dass ich in der nächsten Zeit nicht allzu oft mit dieser Kollegin zusammenarbeiten muss. Ich bleibe lieber stumm, denn ich habe das Gefühl, alles, was ich sage, ist dumm. Es geht mir so vieles durch den Kopf, das ich aussprechen will, aber nicht tue. Ich denke über alles nach, was gerade passiert und auch über das danach. Und ich bleibe lieber stumm, denn wir sollen wir überhaupt noch zuhören? Ich möchte natürlich auch niemanden stören. Was ist, wenn ich niemals gehört werde? Aber ich bleibe lieber stumm, denn für das, was ich sagen möchte, ist niemand bereit, wahrscheinlich nicht einmal ich selbst.
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Serotonin | LGBTQ
Novela Juvenil»Die schlimmste Art, einen Menschen zu vermissen ist, neben ihm zu sitzen und zu wissen, dass er niemals dir gehören wird.« Ich liebte Mavis mit jeder Faser meines Körpers, aber für mich war sie unerreichbar. Vielleicht liebte ich sie deswegen noch...