„Ab Montag starten Sie also in den praktischen Teil Ihrer Ausbildung. Ich wünsche Ihnen alles Gute und viel Erfolg.", teilt uns unsere Lehrerin am Freitag mit. Ich habe echt keine Lust auf das Praktikum. Eigentlich hätte ich in dem Wohnhaus ein Praktikum machen können, in dem ich vor der Ausbildung gearbeitet habe, aber für dieses Jahr haben sie schon einen Azubi und sie dürfen keinen weiteren nehmen. Das nervt mich so unfassbar, denn ich habe mich schon so darauf gefreut. Total genervt fahre ich also am Montag zu meinem neuen Praktikumsplatz. Vielleicht ist das auch ganz cool, aber es ist eben nicht mein Wohnhaus und dort leben nicht meine Bewohner. Ich hasse neue Situationen wie die Pest, das dürfte mittlerweile klar sein. Aber es hilft nichts, ich nehme alle meine Mut zusammen und drücke auf die Klingel. Eine Frau öffnet die Tür. „Hey, ich bin Charlie, die neue Auszubildende.", stelle ich mich vor. „Hey, schön dass du da bist. Ich bin Amari.", stellt sie sich vor. „Am besten zeige ich dir erst mal alles, denn wir werden heute zusammen arbeiten.", ergänzt sie. Auch wenn ich es nie zugeben würde, die Arbeit macht mir sogar fast mehr Spaß, als in meinem alten Wohnhaus. Die Bewohner sind ganz anders, die Arbeit und die Atmosphäre sind anders, irgendwie habe ich das Gefühl, dass meine neuen Kollegen generell viel cooler drauf sind, als meine alten Kollegen. Abgesehen von Marian natürlich. Bei ihm habe ich mich auch schon lange nicht mehr gemeldet, das könnte ich eigentlich mal wieder machen. Amari ist echt nett, sie scheint auch wirklich Ahnung von dem zu haben, was sie da macht. Das finde ich wirklich cool, denn die meisten, die in diesem Beruf arbeiten, sind ziemlich verpeilt. Wenn ich meine Ausbildung beendet habe, will ich unbedingt so strukturiert und perfekt sein, wie Amari.
„Und dann meinte sie, dass unsere Leute dauerhaft stigmatisiert werden. Da hat sie natürlich absolut Recht.", erkläre ich meinem Bruder. In letzter Zeit erzähle ich immer wahnsinnig viel von der Arbeit, aber nur, wenn ich mit Amari gearbeitet habe. „Sie ist so schlau und sie ist mega kompetent.", füge ich hinzu.„Charlie, ich will dir echt nicht zu nahe treten, aber kann es sein, dass du einen Crush auf diese Amari hast?", fragt er. „Ach Quatsch, was redest du denn schon wieder für einen Blödsinn? Vielleicht solltest du mal aufhören, so viel zu rauchen.", entgegne ich ungehalten. „Ich frage ja nur.", erwidert er und zuckt mit den Schultern. „Es ist ja nicht so, dass du sonderlich viel Glück in Beziehungen hattest. Und ehrlich gesagt hast du dich auch immer ziemlich scheiße behandeln lassen. Du hast auch ein Faible dafür, dich in Menschen zu verlieben, die dich entweder verletzen oder die dich nicht wollen, was dich wiederum verletzt.", erkläre ich und Max muss mir zustimmen. „Das stimmt schon, aber an deine chaotischen Beziehungen muss ich dich wahrscheinlich gar nicht erst erinnern. Sam und Kim, Finn und von dem anderen Idioten will ich gar nicht erst anfangen.", schießt mein großer Bruder zurück. „Ach ja? und was ist mit dem Typen, der sich fast umgebracht hat?", frage ich wütend. „Was zum Teufel ist denn hier los?", will unsere Schwester wissen. Sie ist wohl wieder einmal sehr schlecht gelaunt. „Charlie verliebt sich andauernd in die falschen Leute. Und jetzt hält sie mir vor, dass ich mich andauernd in die falschen Leute verlieben würde.", regt sich mein Bruder auf. „Ganz ehrlich, ihr verliebt euch beide immer in die falschen Leute und darüber muss man nicht wirklich diskutieren. Es ist einfach ein Fakt und damit solltet ihr beide jetzt endlich mal klarkommen. Reißt euch zusammen, ihr seid doch keine Kinder mehr.", beendet Tinka die Diskussion. Irgendwie hat sie schon recht.
In den nächsten Wochen versuche ich, besonders viel Zeit mit Amari zu verbringen. Ich kann es nicht genau beschreiben, aber irgendwie fühle ich mich in ihrer Gegenwart super. Ich bin ein Mensch, der normalerweise Angst vor anderen Menschen hat, keine Menschen mag und soziale Kontakte für eher unnötig hält, aber bei Amari ist das etwas anderes. Irgendwie glaube ich, dass ich mich wirklich verliebt habe. Mir fällt es nur etwas schwer, zwischen Zuneigung, Sympathie und Liebe zu unterscheiden. Das war schon immer mein Problem und deswegen bin ich mehr als einmal in eine blöde Situation geraten. Bei meinem Exfreund konnte ich zum Beispiel Liebe nicht von Mitleid unterscheiden und deswegen war ich jahrelang in einer toxischen Beziehung gefangen. Das gleiche, bei meiner alkoholabhängigen Exfreundin, mit der ich irgendwann nur noch zusammen war, weil sie sonst niemanden mehr hatte. Eigentlich habe ich sie zu dem Zeitpunkt schon lange nicht mehr geliebt, sondern hatte nur noch Mitleid und irgendwie hatten wir uns so aneinander gewöhnt, dass ich nicht wusste, wie gut es mir ohne sie geht. „Ich glaube, ich habe mich in meine Kollegin verliebt.", gestehe ich Rachel nach ein paar Wochen. Ich halte es einfach nicht mehr aus, ich muss mit jemanden darüber reden und Max ist momentan kein guter Ansprechpartner dafür. Tinka ist wieder mal von der ganzen Welt abgefuckt und weder mit meinem Vater, noch mit seiner Frau, kann ich darüber sprechen. Für die beiden war es schon schlimm genug, dass ich queer bin. Und die Tatsache, dass ich offensichtlich Mommy issues habe, will ich den beiden gar nicht erst erzählen. „Oh Charlie, das ist gar nicht gut.", bemerkt meine beste Freundin, aber sie hört mir zu, im Gegensatz zu meinen Geschwistern. Und dafür bin ich ihr unfassbar dankbar.
Von einem Kollegen erfahre ich in der nächsten Woche durch Zufall, dass Amari verheiratet ist und das bricht mir das Herz. Warum zum Teufel kann ich mich nicht einmal in jemanden verlieben, der nicht verheiratet ist, ungefähr in meinem Alter ist und der mich auch will? Ich bin einfach Beziehungsbehindert. Und wieder einmal habe ich den schlimmsten Liebeskummer, den ich bis jetzt hatte und ja, das sage ich jedes Mal. Es fühlt sich an, als würde mein Herz in tausend Teile zerbrechen und als würde die Sonne wieder aufgehen. „Hey Babygirl, was ist denn passiert?", fragt meine Schwester, die ausnahmsweise mal empathisch ist und gute Laune hat. Ausnahmsweise vertraue ich ihr und erzähle ihr alles, was passiert ist und wie ich mich fühle. Tinka tröstet mich und zu meiner großen Überraschung macht sie das echt gut. Normalerweise hält sie nicht viel von Menschen, vom trösten oder von mir, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie sich in den letzten Wochen positiv verändert hat. Ich genieße es zumindest, solange es noch anhält. „Weißt du, Charlie, manchmal will das Leben einfach nicht, dass wir glücklich sind. Wir müssen lernen, zu kämpfen und mit dem Schicksal umzugehen. Das weißt du wahrscheinlich genauso gut, wie ich.", erklärt meine große Schwester und ich weiß ganz genau, was sie meint. Auch meine beste Freundin kommt vorbei und tröstet mich. Rachel ist wirklich ein Geschenk des Himmels. Wir sitzen abends in meinem Zimmer oder im Baumhaus und trinken den ein oder anderen Wein, dabei reden wir über das Leben und die Liebe. Eine ganze Zeit lang geht es mir noch richtig beschissen, aber mit der Hilfe von meiner großen Schwester und meiner besten Freundin, geht es mir langsam besser. Obwohl mir die Arbeit echt Spaß macht, bin ich froh, als das Praktikum nach sechs Monaten endet und ich in einer neuen Einrichtung arbeiten kann. Die Zeit war wirklich schön, aber auf den Liebeskummer wegen Amari, kann ich echt verzichten.
Marie erfüllt das komplette Klischee ihres Namens. Sie studiert BWL, geht fast jeden Tag shoppen und trinkt gerne Wildberry Lillet. Sie hat eine eigene Wohnung, die von ihrem Vater finanziert wird und generell scheint er ihren gesamten Lebensstil zu finanzieren. Bei mir ist das nicht so, ich musste schon immer für die Sachen, die ich wollte, arbeiten und mein eigenes Geld verdienen. Wir sind einfach aus unterschiedlichen Welten. Das hätte gar nichts werden können. Sie steht auf Taylor Swift, ich liebe Nirvana. Sie mag pink und schwarz, ich liebe alle Farben des Regenbogens. Sie ist ziemlich materiell eingestellt, ich mag es minimalistisch. Sie ist sehr extrovertiert, ich bin introvertiert. Marie hat gefühlt tausend Freunde und geht super gerne auf Partys, ich habe nur eine Handvoll Freunde und bleibe gerne Zuhause. Als sie mir dann erzählt, dass sie sich von ihrem Freund getrennt hat und es nur mal mit einer Frau ausprobieren wollte, beende ich das ganze, denn auf dieses Niveau werde ich mich mit Sicherheit nicht herunter begeben. Ein paar Wochen später, date ich zum ersten Mal Lisa. Sie ist wohl das, was man früher Emo genannt hat und heute eher eine Beleidigung ist. Zu ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder hat sie keinen guten Kontakt, sie wohnt noch zu Hause, kann aber ihre Familie nicht wirklich leiden. Eine Zeit lang kam ich mit meiner Familie auch nicht so gut klar, aber niemals hätte ich mir erlaubt, so über sie zu reden, wie es Lisa über ihre Familie tut. Bisher habe ich gedacht, dass ich ziemlich düstere Gedanken habe, aber ehrlich gesagt macht mir Lisa manchmal ganz schön Angst, deswegen belasse ich es erst einmal bei zwei Dates. Als sie mir dann auch noch sagt, dass sie gerne einmal Menschenfleisch probieren würde und dass es angeblich so schmecken würde, wie Hühnchen, bin ich komplett raus. Jetzt mal ehrlich, ich will nicht den nächsten weiblichen Jeffrey Dahmer daten. In meiner absoluten Verzweiflung und einer ziemlich harten Identitätskrise, komme ich auf die wahnsinnig dumme Idee, auch mal wieder einen Typen zu daten. Sven ist eigentlich wirklich nett, ihm ist es wichtig, dass es mir gut geht, und so weiter, aber das Problem ist einfach, dass er ein Mann ist. Nach dieser Erfahrung bin ich mir aber sicher, dass ich zu einhundert Prozent auf Frauen stehe.
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Serotonin | LGBTQ
Teen Fiction»Die schlimmste Art, einen Menschen zu vermissen ist, neben ihm zu sitzen und zu wissen, dass er niemals dir gehören wird.« Ich liebte Mavis mit jeder Faser meines Körpers, aber für mich war sie unerreichbar. Vielleicht liebte ich sie deswegen noch...