„Und wenn Sie dann in einer Kita arbeiten, können Sie das anwenden.", beendet meine Lehrerin ihren gefühlt zehnstündigen Monolog. Ich bin wahnsinnig müde, ich könnte tagelang schlafen. Ob meine Depression wieder stärker wird? In meiner depressiven Phase hätte ich auch tagelang schlafen können. „Charlotte? Schlafen Sie etwa?", fragt meine Lehrerin entrüstet. Ich bekomme ein unverständliches 'Nein' raus und stehe auf, um ein bisschen an die frische Luft zu gehen. Auf dem Weg zur Tür kippe ich um und verliere das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir komme, beugt sich ein Notarzt über mich. „Wissen Sie, was passiert ist?", fragt er. Witzig, der Typ scheint wohl einen Clown gefrühstückt zu haben. Ich habe überhaupt keinen Plan, was passiert ist. Als ich ihm das sage, nickt er nachdenklich. „Ich würde Sie gerne zur Beobachtung mit ins Krankenhaus nehmen.", teilt er mir mit. Äußerst widerwillig stapfe ich hinter ihm her und betrete den Krankenwagen. „Kann ich nicht mit meinem Auto ins Krankenhaus fahren?", frage ich ungehalten. Dafür ernte ich einen geschockten Blick von einem der Sanitäter. „Hatten Sie in letzter Zeit öfter Nasenbluten oder komischen Ausfluss aus der Nase?", fragt der Notarzt. „Ja, aber das ist doch normal. Ich bin einfach nur gestresst.", antworte ich. „Das ist es definitiv nicht. Deswegen werden Sie nicht mit Ihrem Auto fahren.", entgegnet er. Auf der Fahrt bin ich immer noch etwas durcheinander. Plötzlich riecht es ziemlich stark nach Metall, aber niemand sonst riecht es. Kurz darauf verliere ich wieder das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir komme, bin ich in irgendeinem kalten Raum. Ich versuche aufzustehen, aber es geht nicht. Offensichtlich bin ich zu schwach. „Hallo Charlotte, wissen Sie, wo Sie sind?", fragt eine etwa vierzigjährige Frau. „Nicht wirklich.", gebe ich zu. „Sie waren in der Schule, dort haben sie das Bewusstsein verloren und auf dem Weg ins Krankenhaus haben Sie mehrere Minuten gekrampft. Die Ärzte vermuten, dass Sie eventuell eine neurologische Erkrankung haben, deswegen müssen wir einige Tests machen. Ich bin übrigens Schwester Linda.", erklärt sie. Ungefähr zehn Minuten später werde ich auf die Station gebracht, dort sind nur alte Leute. „Lass dich davon nicht beeindrucken, die meisten Leute, die hier auf der Neurologie liegen, sind über sechzig. Wir hatten hier noch nie einen Patienten, der jünger als fünfzig war.", teilt mir Schwester Linda mit.
Ich hasse Krankenhäuser, würde ich direkt abhauen, aber mein toller Körper macht mir einen Strich durch die Rechnung. Als ich aufstehen möchte, lande ich der Länge nach auf dem Boden und ich bin ziemlich groß. Momentan fühle ich mich wie ein übergroßer Pfannkuchen, der einfach so auf den Boden gefallen ist. Natürlich kommt jetzt eine Krankenschwester rein, die mich zurechtweist, ich solle doch im Bett liegen bleiben. Sorry, bin ich achtzig? Ich schleppe mich ziemlich demotiviert in das Bett. Sie will mir helfen, aber das möchte ich nicht. Kurz darauf habe ich eine Panikattacke. Da ich das auch schon früher getan habe, hole ich mich selbst aus dieser Panikattacke wieder raus. Jemand anderes könnte das vermutlich auch nicht viel besser. Ungefähr zwei Stunden später steht mein Papa im Zimmer und umarmt mich. Fast zeitgleich taucht auch Max auf. Bisher habe ich mir kein Blut abnehmen lassen, das ist der absolute Horror für mich, aber da mein Bruder mich beruhigt, lasse ich es ausnahmsweise zu. Unser Vater fährt bald wieder nach Hause, er kann auch keine Krankenhäuser leiden und verübeln kann ich es ihm definitiv nicht. Im Gegenteil, ich kann das absolut verstehen. Mein Bruder bleibt noch eine Weile bei mir und dafür bin ich verdammt dankbar, denn auch er hat keine besonders guten Erinnerungen an Krankenhäuser. Abends kommt dann auch noch meine Schwester Tinka vorbei. „Charlie, du blöde Nuss, was machst du denn?", fragt sie besorgt. Ich zucke ahnungslos mit den Schultern. Diese Nacht ist die reinste Hölle. Meine Zimmernachbarin schnarcht, als würde sie den gesamten Schwarzwald absägen und alle zwei Stunden kommt jemand rein und misst mir Blutdruck und Puls. Total nervig. Wenn ich nicht genug Schlaf bekomme, kann ich sehr ungemütlich werden und alle zwei Stunden geweckt zu werden, wenn man sowieso schon kaum schlafen kann, trägt nicht gerade zur guten Laune bei. Am nächsten Morgen muss ich direkt ins MRT und ich hasse diese Untersuchung so abgrundtief. Die Röhre, der wenige Platz, die schlechte Luft, der Lärm, das alles sorgt dafür, dass ich in der Röhre eine Panikattacke bekomme und mich bewege. Die Bilder sind verwackelt und ich bekomme Kontrastmittel gespritzt, was ich auch verdammt eklig finde, denn seit einem gewissen Vorfall hasse ich Spritzen mehr, als alles andere auf dieser Welt, sogar mehr als Mathe. Nach der Untersuchung soll ich etwas essen, um halb zwölf, da hat doch kein normaler Mensch Hunger. Außerdem muss ich mich dauerhaft übergeben, das ist echt eklig und da esse ich doch garantiert nichts, sonst muss ich mich noch mehr übergeben.
Mein Bruder besucht mich, sobald die Besuchszeit beginnt und er hat mir Bücher mitgebracht. Max ist echt meine absolute Rettung. Da meine Augen ziemlich wehtun und ich relativ schwach bin, liest er mir vor, wie er es früher immer getan hat, als ich noch nicht lesen konnte. „Hast du eigentlich schon etwas gegessen?", fragt er beiläufig. Er weiß ganz genau, dass ich außerhalb von zu Hause und ein paar ausgewählten Freunden nichts esse. „Ja klar.", lüge ich. „Charlie, verarsch mich nicht. Du musst etwas essen. Ich muss gleich zur Arbeit, aber ich bringe dir etwas zu essen, wenn ich wieder komme.", erwidert er. Zum Abschied streichelt er mir über den Kopf, denn ich bin zu schwach für alles andere. Ich bekomme das auch gar nicht so wirklich mit, denn ich bin am einschlafen. Als ich aufwache, steht jemand vor mir, den ich mit Sicherheit niemals erwartet hätte. „Hey, Charlie. Wie geht es dir?", fragt Mavis besorgt. „Hey.", flüstere ich verschlafen. „Du nimmst nicht wieder Drogen, oder?", fragt meine ehemalige Lehrerin. „Nein.", entgegne ich. Mavis bleibt noch eine Weile bei mir, aber viel ist mit mir nicht anzufangen, trotzdem verspricht sie, mich wieder zu besuchen. Das macht mich glücklich. Mein Vater springt noch mal über seinen Schatten und besucht mich abends, Jessica ist auch bei ihm. Ich kann sie eigentlich nicht wirklich leiden, aber in dieser Situation bin ich verdammt froh, dass sie ihm beisteht. Die beiden tauchen genau zum richtigen Zeitpunkt auf, denn nach dem Abendessen, was ich schon um kurz vor fünf bekommen habe, kommt ein Arzt und teilt mir das Ergebnis von meiner Untersuchung mit. „Sie müssen leider noch mal zum MRT, um etwas schlimmeres ausschließen zu können. Wir haben einen großen Fleck gefunden und wir sind uns nicht ganz sicher, ob es Multiple Sklerose oder ein Tumor sein könnte. Auf jeden Fall ist da etwas, dass da nicht hingehört und das müssen wir überprüfen.", erklärt er. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich dazu sagen soll. Damit hätte ich nicht gerechnet. Bei meinem Vater werden alte Wunden wieder aufgerissen und es tut mir so unfassbar leid für ihn. Er sollte so etwas nicht noch einmal durchmachen, deswegen versuche ich, ganz tapfer zu sein und meine Angst zu verstecken. Natürlich habe ich Panik, dass es etwas schlimmes sein könnte, aber ich will nicht, dass mein Vater noch einmal traumatisiert wird.
Und wieder beginnt das gleiche Spiel von vorne, ich muss zum MRT, bekomme eine Panikattacke, dann wird mir wieder Kontrastmittel gespritzt und wieder muss ich auf das Ergebnis warten. Der Unterschied ist nur, dass ich mir diesmal wirklich Sorgen mache. Mittags kommt meine große Schwester vorbei und bringt mir Essen mit. Dafür bin ich ziemlich dankbar, denn sie kann total gut kochen. Auch sie ist schockiert und weicht nicht von meiner Seite. Plötzlich habe ich wieder dieses schlimme Nasenbluten, es will gar nicht aufhören, also stecke ich mir zwei Tampons von meiner Schwester in die Nase. „Zum Glück bist du kein Vampir, sonst würdest du mir das wahrscheinlich mein ganzes Blut aussaugen.", bemerke ich sarkastisch. „Na wenigstens hast du deinen Humor noch nicht verloren.", entgegnet Tinka und ich muss ein bisschen lächeln. Ungefähr zehn Minuten später ist das Ergebnis da. Wir haben uns dazu entschieden, dass wir es direkt erfahren wollen, falls es schlimm ist, haben wir wenigstens noch Zeit, uns darauf vorzubereiten, wie wir es unserem Vater sagen sollen. Obwohl ich schon damit gerechnet habe, da ich in manchen Situationen wirklich verdammtes Pech habe, bin ich geschockt. Offenbar habe ich einen Hirntumor, das war zumindest auf dem MRT deutlich erkennbar. Mein Schwester weint, die ganze Situation scheint sie zu sehr an unsere Mama zu erinnern und vielleicht hat sie auch Angst um mich. Als sie sich etwas beruhigt hat, sprechen wir ganz ruhig über das Thema. Ich bin zwar geschockt, aber traurig bin ich nicht wirklich. Mein Papa allerdings schon. Als er abends davon erfährt, bricht er zusammen. Er hält mich so fest, dass es sogar ein bisschen wehtut. Max ist leichenblass und weiß gar nicht, was er sagen soll. Das ist ziemlich untypisch für ihn, dann normalerweise redet mein großer Bruder ohne Punkt und Komma. Ich sehe das Ganze immer noch relativ locker, ich habe mich auch vom ersten Schock erholt. Sollte wirklich etwas schief gehen, wäre ich wenigstens bald bei meiner Mutter. Vielleicht hätte ich das nicht denken sollen, denn im nächsten Moment habe ich ein schlechtes Gewissen. Über den Tod sollte man echt keine Witze machen, aber irgendwie gehört es zu meinem Leben dazu.
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Serotonin | LGBTQ
Teen Fiction»Die schlimmste Art, einen Menschen zu vermissen ist, neben ihm zu sitzen und zu wissen, dass er niemals dir gehören wird.« Ich liebte Mavis mit jeder Faser meines Körpers, aber für mich war sie unerreichbar. Vielleicht liebte ich sie deswegen noch...