10. Mavis

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Okay, ich bin jetzt mal ehrlich, ich bin so nervös, am liebsten würde ich auf der Stelle umdrehen und wieder nach Hause gehen, mich in mein geliebtes Bett einkuscheln und Filme schauen. Was passiert denn, wenn ich gar nichts mehr kann? Ich habe so viel Unterricht verpasst, was passiert, wenn ich den Anschluss verpasse? Ich will die Ausbildung nicht wiederholen. Natürlich, ich bin im ersten Ausbildungsjahr und wenn ich da ein bisschen hinterher hinke, ist es nicht ganz so schlimm, aber ich bin nun mal eine verdammte Perfektionistin. Aber ich habe mich in den letzten Jahren auch verändert. Ich bin vom schüchternen Mauerblümchen zur zwar immer noch schüchternen, aber manchmal auch extrovertierten bad bitch mutiert. Ich habe keine Freunde in meiner Klasse, wie denn auch, bevor ich eine richtige Freundschaft hätte aufbauen können, wurde ich krank. Also betrete ich schüchtern den Klassenraum und weiß nicht so recht, wo ich mich hinsetzen soll, also setze ich mich in die erste Reihe, die noch fast komplett frei ist. „Charlotte, Sie sind wieder da. Das ist ja schön.", bemerkt meine Klassenlehrerin und lächelt mich an. Ich bin allerdings eher peinlich berührt, eigentlich wollte ich nicht, dass mich jemand bemerkt. Meine Klasse weiß nicht so wirklich, wie sie sich verhalten soll, das kann ich aber auch absolut nachvollziehen. Ich wüsste an ihrer Stelle auch nicht, wie ich reagieren sollte. Fast alle meine Lehrer machen so eine Szene, abgesehen von einem Lehrer, der gar keinen Plan hatte, dass ich überhaupt in der Klasse bin. Das ist mir eigentlich auch ganz recht. Meine Klassenlehrerin hat ziemlich viele Fragen, die sie auch alle an diesem ersten Schultag stellt. Fantastisch. Statt Unterricht zu machen, darf ich ihr erst einmal meine gesamte Krankheitsgeschichte erklären. Eigentlich habe ich ja kein Problem damit, aber ich bemerke, wie genervt die anderen sind und ich bin es ehrlich gesagt auch. „Und Ihre Familie hat keine Vorerkrankungen? Keinen Krebs oder so?", fragt meine Lehrerin. Hier hat sie einen wunden Punkt getroffen und ich antworte ihr nicht mehr. Schließlich macht sie dann doch Unterricht, darüber bin ich unendlich froh.

„Ohne scheiß, das hat mich so unfassbar genervt. Ich war so froh, als sie dann endlich ihren blöden Unterricht durchgezogen hat.", rege ich mich auf, als ich bei Mavis zu Besuch bin. Ich bin in letzter Zeit öfter bei ihr, wenn ihr Mann im Training ist. „Charlie, jetzt mal ganz ehrlich, das war mit Sicherheit nicht ihre Absicht. Sie wollte wahrscheinlich einfach nur wissen, wie es dir geht und was da genau passiert ist, sie wollte dich bestimmt nicht verletzen oder bloßstellen.", verteidigt meine ehemalige Lehrerin ihre Kollegin. „Ja, das kann schon sein aber ich habe ihr ganz deutlich signalisiert, dass mir das unangenehm ist. Als sie dann auch noch gefragt hat, ob in meiner Familie schon jemand Krebs hatte, war es komplett vorbei.", erwidere ich. „Ich weiß das und du weißt das, sie kennt dich allerdings noch nicht so lange. Und woher soll sie wissen, was damals mit deiner Oma passiert ist?", fragt Mavis. „Ja, ich weiß. Ich will mich auch gar nicht so darüber aufregen. Ich bin einfach ein Hitzeblitz.", gebe ich geknickt zu. „Du bist ein kleines Stressbällchen.", zieht mich meine ehemalige Lehrerin auf. Sie kennt mich einfach viel zu gut. Nachdem ich mich abgeregt habe, schauen wir zusammen einen Film. Mavis steht auf alte Filme, genau wie ich. Also schauen wir Nosferatu, den ganz alten, von 1922. „Charlie, du weißt doch, dass dich deine Krankheit nicht definiert, oder?", fragt sie eine ganze Weile später. Das überfordert mich jetzt erst mal. Ich habe eigentlich nie gedacht, dass mich meine Krankheit definiert. Klar, sie war ein großer Teil meines Lebens, bis man mir mein Hirn aufgeschnitten und die kranke Stelle entfernt hat. „Natürlich definiert mich meine Krankheit nicht.", entgegne ich und grinse sie an. „Du bist wirklich etwas ganz besonderes.", bemerkt Mavis. Ich kann mich nicht mehr zurückhalten, ich habe schon seit einer ganzen Zeit Gefühle für sie. Also setze ich alles auf eine Karte und küsse sie.

Der Kuss ist so unfassbar schön und von mir aus könnte dieser Moment ewig dauern, aber leider ist er bald schon vorbei. „Charlie, verdammt. Was sollte das?", fragt Mavis geschockt. „Ein Kuss.", antworte ich kleinlaut. „Das ist mir schon klar, aber warum zum Teufel hast du mich geküsst?", fragt sie und schaut mich immer noch geschockt an. „Ich weiß es nicht.", entgegnete ich. Irgendwie weiß ich nicht genau, was ich eigentlich fühlen soll oder was ich denken soll, ich bin einfach nur verwirrt und überfordert, vermutlich würde das Wort lost ganz gut passen. „Charlie, das geht so nicht.", bemerkt Mavis und ich schäme mich. Im nächsten Moment renne ich aus der Wohnung und irre planlos durch die Straßen, denn meine ehemalige Lehrerin wohnt in einem Teil der Stadt, in dem ich vorher noch nie war. In meiner ausweglosen Situation, rufe ich meinen Bruder an, der zum Glück sofort Zeit hat. Es vergehen gerade einmal fünfzehn Minuten, da steht er schon vor mir. In diesem Moment bin ich wieder einmal so unfassbar dankbar für diesen tollen Jungen. Wir fahren erst mal zu McDonald's, dann reden wir. Max und ich können einfach über alles reden, er verurteilt mich auch nicht, im Gegenteil. Als er sechzehn war, war er auch mal in einen Lehrer verliebt. Mir geht es danach tatsächlich besser und ich zwinge mich am nächsten Tag zur Schule. Dort sucht meine ehemalige Lehrerin das Gespräch mit mir. „Hey Charlie, wir sollten dringend reden.", flüstert sie. Wir verziehen uns in die Bibliothek, die sonst von niemandem genutzt wird. „Du weißt, dass du mir verdammt viel bedeutest, aber der muss doch auch klar sein, dass das nicht funktionieren wird, dass es keine Zukunft hat und dass ich ziemlichen Ärger bekommen kann.", beginnt sie. „Illegal wäre es aber nicht, weil ich volljährig bin und außerdem bist du nicht meine Lehrerin.", entgegne ich. „Trotzdem. Ich bin verheiratet und ich liebe meinen Mann.", erwidert sie. „Bist du dir sicher?", frage ich. „Natürlich.", antwortet sie. Jetzt ist nicht die Spur eines Lächelns auf ihrem Gesicht, ihre Augen verengen sich und sie schaut mich böse an. Aber jetzt mal ernsthaft, hätte sie den Kuss erwidert, wenn sie wirklich zu hundert Prozent glücklich in ihrer Beziehung ist? Aber wahrscheinlich sollte ich mir da keine allzu großen Hoffnungen machen. Mavis hat schon recht. Sie ist verheiratet und führt ein perfektes Leben, da würde ich wahrscheinlich nur stören. Wie konnte ich nur so blöd sein, dass ich eine Chance bei ihr hätte? Am liebsten würde ich wieder meinen Bruder anrufen, aber irgendwann muss ich ja wohl erwachsen werden und meine Probleme selbst regeln. Wobei es mir natürlich schon lieber wäre, wenn ich eine Mutter hätte, der ich alles anvertrauen könnte.

„Charlie, du isst ja gar nichts. Was ist denn los? Hast du Ärger in der Schule?", fragt Jessica. Ich habe nicht einmal ein böses Wort für sie übrig, was echt untypisch für mich ist. Momentan ist mir noch nicht einmal danach, sie fertig zu machen oder zu hassen. Eigentlich glaube ich, dass ich nie wieder etwas fühlen kann. Ich zucke nur teilnahmslos mit den Schultern und ausnahmsweise respektiert die neue Frau meines Vaters das. Normalerweise hakt sie dann immer noch einmal nach, aber sie scheint diesmal wohl wirklich zu merken, dass es mir nicht gut geht und dass ich absolut nicht darüber reden will. Auch mein Vater und Tinka lassen mich in Ruhe, was echt ungewöhnlich ist. Nach dem Abendessen, bei dem ich nicht einen Bissen runterwürgen konnte, verziehe ich mich in mein Zimmer. „Wie schlimm war es? Was hat sie gesagt?", fragt mein Bruder. „Was soll sie schon gesagt haben? Sie ist verheiratet. Sie ist zwar bi, das war sie wohl schon immer, aber es reicht nicht. Das alles hat keine Zukunft.", flüstere ich mit gebrochener Stimme und Tränen in den Augen. Max nimmt mich in den Arm und ist einfach nur da. Er redet nicht, das muss er nicht, seine bloße Existenz hilft mir. Sie heilt zwar nicht meine Wunden, aber ich fühle mich besser. „Manchmal möchte ich mir den Kopf wegschießen.", beginnt Max. „Nur noch tot in meiner Kotze liegen.", ergänze ich. „Deswegen will mich mein Doc wegschießen. Denn ich nehm' meine Pille nicht, weil ich will nicht.", macht er weiter. „Könnt wie du willst laufen gehen, mich zwingen morgens aufzustehen. Doch Hauke will ein' rauchen gehen, wenn es nach Hauke geht.", beende ich unseren Rapeinsatz. Mein Bruder macht mir noch einen Kakao und meine Lieblingspizza. Komischerweise kann ich jetzt etwas essen. Der Liebeskummer hält zwar natürlich noch an, aber zumindest geht es mir für den Moment besser. Nachts habe ich schlimme Albträume, ich träume zum Beispiel davon, dass mein Vater stirbt. Das triggert mich und ich wache schreiend auf, also legt sich Max neben mich und wartet, bis ich eingeschlafen bin. In den folgenden Nächten schläft er direkt bei mir. Er ist nicht einfach nur mein Bruder, irgendwie ist er für mich die Mama, die ich nie hatte. Nach ungefähr zwei Wochen, in denen ich mich wirklich gequält habe, geht es mir endlich wieder gut, zumindest halbwegs. Das verdanke ich aber vor allem dem besten Bruder der Welt.

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