„Charlie, wie war die Schule?", fragt mich meine Stiefmutter gut gelaunt, als ich endlich zu Hause bin. „Hmm, war okay.", antworte ich und verkrieche mich in meinem Zimmer. „Charlie? Ist wirklich alles okay?", fragt sie und kommt einfach in mein Zimmer, ohne zu fragen, was mich schon wieder fast auf die Palme bringt. „Ja und jetzt hätte ich gerne meine Ruhe.", entgegnete ich wütend, aber ich habe mich noch ein bisschen unter Kontrolle. Normalerweise raste ich in solchen Situationen sofort aus. Wahrscheinlich ist es mein neurodivergentes Gehirn, das für meine niedrige Frustrationstoleranz sorgt. Kaum ist meine Stiefmutter weg, taucht Tinka auf. „Hey Honeymoon, alles klar?", fragt meine große Schwester und lässt sich auf mein Bett fallen. „Warum zum Teufel kann ich nicht einfach mal meine Ruhe haben? Merkt ihr eigentlich, dass es mir richtig beschissen geht und ich alleine sein will?", entgegnete ich sauer und da meine Schwester mich jetzt schon seit neunzehn Jahren kennt, verlässt sie augenblicklich mein Zimmer. Erst als Max abends nach Hause kommt, habe ich mich etwas beruhigt und er ist im übrigen auch der einzige, der mein Zimmer betreten darf, wenn es mir so schlecht geht und ich überreizt bin. „Was war los?", fragt er. Das liebe ich an meinem Bruder, er fragt gar nicht erst, wie es mir geht, weil er genau sieht, dass es mir eben nicht gut geht. „Die Schule ist total hässlich und langweilig, ich hätte am liebsten schon mit dem Unterricht angefangen, aber wir haben nur blöde Kennenlernspiele gespielt. Max, sehe ich aus, als würde ich gerne so eine Scheiße machen? Das kann doch nicht deren Ernst sein. In dieser Klasse sind alle erwachsen oder sie tun zumindest so, warum müssen wir dann solche bescheuerten Spiele spielen?", sprudelt es aus mir heraus. „Ich kann dir das leider nicht beantworten. Aber ich hätte auch keinen Bock auf sowas. Was hältst du von Burger King? Momentan gibt es wieder deine Chilli-Cheese Nuggets. Vielleicht beruhigen die dich ein bisschen. Das komische Zeug, was Jessica gekocht hat, kannst du ja nicht essen.", entgegnet er und wir lachen. Das Talent zum Kochen hat sie sich definitiv von Carrie Bradshaw aus Sex and the City abgeschaut. Die kann nämlich genauso wenig kochen, wie Jessica. Als ich dann endlich meine geliebten Chilli-Cheese Nuggets in den Händen halte, sieht die Welt auch schon ganz anders aus.
Wie man vielleicht bemerken konnte, bin ich kein besonders großer Fan von der Schule. Ehrlich gesagt, würde ich jemanden dafür bezahlen, für mich in die Schule zu gehen und die Ausbildung zu machen. Ich arbeite eben lieber praktisch, als stur drei Jahre lang theoretisch. Mein einziger Lichtblick sind die Praktika, die ich in den drei Jahren machen soll. Sichtlich unmotiviert schleppe ich mich also an diesem verregneten Dienstag in die mehr als baufällige Schule, die bestimmt schon seit den achtzigern nicht mehr renoviert wurde. Ich bin viel zu früh, weil ich aus lauter Nervosität mehr als eine Stunde vor Schulbeginn losgefahren bin und ich eigentlich nur zwanzig Minuten mit dem Auto brauche. Angewidert laufe ich einmal um den Block. Es riecht überall nach Urin und Alkohol. Fantastisch. Hier soll ich also die nächsten drei Jahre einen sozialen Beruf lernen, im größten Drecksloch, das man sich vorstellen kann. Ich sehe es schon kommen, dass ich bald wieder mit dem Rauchen anfangen werde, einfach, weil ich von der Umgebung so überfordert bin. Sobald mich etwas überfordert, fange ich wieder an zu rauchen. Bis jetzt hatte ich es eigentlich nur auf ein paar mal Weed im Monat beschränkt. Schmerzlich wird mir bewusst, dass ich damit ja auch aufhören muss. Zuerst einmal bin ich noch in der Probezeit vom Führerschein und wenn ich eine Einrichtung für mein Praktikum finde, muss ich zum Betriebsarzt und ich bin mir nicht sicher, ob der mich auf Drogen untersucht. Um acht Uhr sitze ich dann also im Unterricht und langweile mich wahnsinnig. Wir reden nur darüber, warum wir uns diesen Bereich ausgesucht haben. Mich interessiert doch nicht, was die anderen denken oder wie sie ticken. Im Endeffekt bin ich nicht hier, um Freunde zu finden, sondern um etwas zu lernen und dafür brauche ich die anderen definitiv nicht. Die sind sowieso voll unsympathisch. Gut, vielleicht bin ich in dieser Situation die unsympathische, aber ich mag nun mal einfach keine Menschen.
Als ich in der Pause alleine über den Schulhof laufe, wenn man das überhaupt Schulhof nennen kann, treffe ich zufällig auf jemanden, an den ich schon lange nicht mehr gedacht habe, der mir aber mal verdammt wichtig war. Wie konnte ich sie nur vergessen? Ihre schulterlangen, roten Haare. Die krassesten grünen Augen, die ich jemals gesehen habe. Die sportliche Figur, um die ich sie immer beneidet habe. Den Charakter aus Gold, der von vielen ausgenutzt wurde, den ich aber wahnsinnig geschätzt habe. „Frau Slavik?", frage ich überrascht. „Oh mein Gott, Charlie, bist du das? Du hast dich aber ganz schön verändert. Ich heiße inzwischen Schneider, ich habe vor zwei Jahren geheiratet und habe eine kleine Tochter.", entgegnet sie und lächelt mich an, wie sie es früher immer getan hat. Sie hat geheiratet, das ist schön, zumindest für sie. Obwohl ich sie so lange nicht gesehen habe und mich eigentlich für sie freuen sollte, freue ich mich nicht wirklich. Ich spüre plötzlich einen Stich in der Brust, fast so, als wäre ich eifersüchtig. Aber warum? Ich habe sie doch fast vergessen. „Charlie? Ist alles in Ordnung?", fragt Jessica abends, als wir ausnahmsweise gemeinsam essen. Ich will nicht darüber reden, erst recht nicht mit der neuen Frau meines Vaters oder mit ihm. Außerdem will ich noch nicht einmal an Mavis denken. „Charlie, du bist gerade echt komisch.", bemerkt mein Vater. Normalerweise würde ich nach diesem Kommentar an die Decke gehen, aber ich habe einfach keine Kraft dafür. Manchmal sind wir wie Feuer und Benzin, wir vertragen uns einfach nicht und wenn wir aufeinander treffen, gibt es eine riesige Explosion. Nach dem quälend langen Abendessen, rufe ich Levi an, um ihm von der ganzen Situation zu erzählen. „Bro, du hast einfach Frau Slavik getroffen. Mega krass, dass sie geheiratet hat und dass sie sogar ein Kind hat. Ich hatte immer das Gefühl, dass sie forever Single bleiben wird und dass sie eigentlich gar keine Kinder mag.", stellt er fest. „Weißt du noch, wie sie für mich da war, als es mir richtig beschissen ging? Ich glaube, in diesem Moment habe ich mich in sie verliebt.", bemerke ich. „Charlie, ich bin mir nicht ganz sicher, ob das Liebe war oder ob du einfach nur eine Mutterfigur gesucht hast. Immerhin hattest du ja nie eine richtige Mutter und Frau Slavik hat sich so Sorgen um dich gemacht, sich um dich gekümmert, wie das eben eine Mutter tut.", überlegt mein bester Freund. Manchmal glaube ich, dass er mich viel besser kennt, als ich mich selbst. Das Gespräch hat mich nachdenklich gemacht, bis jetzt war ich mir eigentlich immer sicher, dass ich sie geliebt habe. Allerdings war sie auch nicht meine erste große Liebe, ich war vorher schon zweimal in Lehrerinnen verliebt, aber bei ihr hat sich das irgendwie anders angefüllt, wie eine tiefe Verbundenheit. Und wieder einmal wünsche ich mir, ganz normal zu sein, eben langweilig, wie alle anderen.
Als ich sechzehn war, war ich bereits schon drei Jahre mit einem Typen zusammen, mit dem man besser nicht zusammen sein sollte, mit dem man noch nicht einmal Zeit verbringen sollte. Würde mich jemand nach ihm fragen, würde ich der Person empfehlen, sich so weit wie möglich von ihm fernzuhalten. Mark war ein Arschloch, er hat mich manipuliert und missbraucht, wo er nur konnte. Als ich ihn kennen gelernt habe, war ich zwölf und er war achtzehn, ich hatte gerade eine echt schwierige Phase. Anfangs hatte ich wahrscheinlich nur aus Trotz Kontakt mit ihm, weil mein Vater es mir verboten hat. Heute kann ich es sehr gut nachvollziehen, aber ich war ziemlich jung, hatte nichts zu verlieren und ich war wahnsinnig dumm. Manchmal frage ich mich auch, was sich Mark damals eigentlich dabei gedacht hat. Ich war noch ein Kind. Als ich dreizehn war, sind wir dann zusammengekommen, er war zu dem Zeitpunkt neunzehn. Er hat mir die Aufmerksamkeit geschenkt, die ich zu Hause nicht bekommen habe. Mein Vater war nämlich komplett mit meinem Bruder und meiner Schwester beschäftigt, die in dieser Zeit ziemlich krasse Pubertiere waren. Tinka hatte gefühlt jede Woche einen neuen Freund, hat sich gar nicht mehr um die Schule gekümmert, nur noch schlechte Noten geschrieben und sie hat sich nachts heimlich rausgeschlichen. Max war in dieser speziellen Phase seines Lebens, in der er gemerkt hat, dass er schwul ist und er hatte ziemlich starke Depressionen. Bis zu diesem Zeitpunkt bin ich immer unterhalb des Radars geflogen, ich war lieb, nett und schüchtern, also hat sich niemand Sorgen um mich gemacht. Aber auch ich habe mich verändert und niemand hat es bemerkt. Mark hat damals alles für mich getan, zumindest dachte ich das. Natürlich hatte er Hintergedanken, im Nachhinein ist mir das auch bewusst geworden. Schon bald hat er angefangen, mir Drogen zu geben, die ich genommen habe, ohne das ganze zu hinterfragen. Schon bald wurde die Beziehung zu meiner persönlichen Hölle und ich konnte mich nicht befreien. In dieses Chaos ist Mavis geschlittert und hat mein Leben gewaltig auf den Kopf gestellt.
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Serotonin | LGBTQ
Teen Fiction»Die schlimmste Art, einen Menschen zu vermissen ist, neben ihm zu sitzen und zu wissen, dass er niemals dir gehören wird.« Ich liebte Mavis mit jeder Faser meines Körpers, aber für mich war sie unerreichbar. Vielleicht liebte ich sie deswegen noch...