„Wo ist der Lippenstift?", brüllt mich meine Schwester an. „Woher soll ich das wissen, du dumme Kuh? Sehe ich vielleicht so aus, als würde ich mir diese rote Pampe freiwillig ins Gesicht schmieren?", frage ich sarkastisch. „Jetzt mal ernsthaft, denkst du vielleicht, dass Max den Lippenstift genommen hat? Wer soll ihn sonst haben, außer dir?", erwidert Tinka aggressiv. „Bist du jetzt komplett hängen geblieben? Ich habe mich noch nie geschminkt und ich werde es wahrscheinlich auch in Zukunft nicht tun. Außerdem will ich mir nicht deinen Herpes von irgendwelchen Typen einfangen, mit denen du geknutscht hast. Nur weil du wieder mal etwas verloren hast, weil du so eine riesige Chaosqueen bist, musst du mir nicht unterstellen, dass ich deine Sachen genommen habe!", brülle ich wütend. „Seid ihr beiden komplett gestört?", greift Jessica ein. „Du solltest dich aus unseren Angelegenheiten raushalten, das geht dich gar nichts an.", entgegne ich kühl und verlasse die Situation. Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, dass meine große Schwester mich wegen jedem Scheiß beschuldigt, jetzt geht mir auch noch die neue Frau meines Vaters auf die Nerven. Von meinem Bruder kann ich mir momentan leider auch keinen emotionalen Support abholen, er ist unterwegs und er geht auch nicht an sein Handy. Geknickt rufe ich meine beste Freundin Milla an. Wie gerne würde ich jetzt einfach so zu ihr fahren und mit ihr abhängen, aber sie ist vor einem Jahr nach Hamburg gezogen und das ist leider nun mal ziemlich weit weg von hier. „Ich finde deine Schwester ziemlich beschränkt, das weißt du. Und auch diese Jessica ist absolut ranzig. Ich vermisse dich. Warum kannst du nicht einfach hier bei mir sein?", fragt meine beste Freundin. „Glaub mir, ich vermisse dich auch, und ich wäre verdammt gerne bei dir. Nicht nur, weil ich dann weit weg von meiner blöden Familie wäre, es wäre so fantastisch, wenn wir zusammen wohnen könnten.", entgegne ich nachdenklich. Milla baut mich noch ein bisschen auf, wie sie es früher immer getan hat. Wieder einmal wird mir bewusst, wie sehr ich sie eigentlich vermisse.
Eigentlich will ich nur in Ruhe wieder einmal kreativ sein, etwas zeichnen, an meinen Fotos arbeiten, hauptsache, ich kann mich ablenken. Da fällt mir ein, dass ich doch vor einiger Zeit Textilfarbe und ein paar schwarze T-Shirts im Internet bestellt habe. Weil ich sowieso gefühlt nichts zum anziehen habe, kommt mir die wahnsinnig tolle Idee, die T-Shirts erst zu bleichen und dann zu bemalen. Eigentlich eine ganz tolle Idee und ich kann meiner Kreativität freien Lauf lassen, aber die Frau meines Vaters hat wohl etwas dagegen. Nicht nur, dass sie plötzlich in mein Zimmer stürmt, ohne vorher anzuklopfen, sie schreit mich auch noch an. Ich verstehe nicht genau, was ihr Problem ist, ihre schrille Stimme zerfetzt mir fast das Trommelfell und ich verstehe kein Wort. Da sie genau weiß, dass sie absolut nichts in meinem Zimmer verloren hat, schicke ich sie nach draußen. Sie verlässt mein Zimmer, ich schließe mich ein, aber sie brüllt mich noch weiter durch die geschlossene Tür an. Was für eine dumme Kuh. Manchmal frage ich mich echt, was sich mein Vater dabei gedacht hat, als er mit dieser schrecklichen Frau zusammen gekommen ist. Was zum Teufel denkt sich diese Nervensäge überhaupt, dass sie sich als meine Mutter aufspielen kann und mit mir schimpfen kann? Niemals. Erstens bin ich neunzehn und kein Kind mehr, zweitens wird sie niemals meine Mutter ersetzen und drittens wird sie nicht mal ansatzweise den Respekt bekommen, den meine Mutter verdient hat. Für mich ist sie keine Mutter und auch kein Ersatz für meine Mutter, sie ist einfach nur ein schrecklicher Mensch und manchmal hasse ich sie so sehr, dass ich sie auf einen anderen Planeten wünsche. Sie läuft schimpfend durch unser Haus und früher oder später musste es mein Vater mitbekommen. Kurze Zeit später will er in mein Zimmer kommen, aber ich habe noch abgeschlossen. Auch er steht schimpfend vor der Tür und in diesem Moment hasse ich auch ihn. Eigentlich ist er echt lieb, aber wenn er ausrastest, kann er ziemlich verletzend sein. „Ich brauche eine eigene Wohnung, am besten sofort.", bemerke ich genervt. „Ach Charlie, ich weiß ganz genau, wie du dich fühlst.", entgegnet mein bester Freund Levi. „Und nächste Woche haben wir so eine blöde Familienfeier. Dann lügt sich wieder jeder ins Gesicht, aber eigentlich kann niemand den anderen leiden. Dann werde ich mir wieder anhören müssen, dass ich doch froh sein soll, noch zu Hause wohnen zu dürfen. Bro, ich zahle zwar keine Miete, dafür aber mit meiner mentalen Gesundheit.", rege ich mich auf. „Wenn du magst, kannst du gerne mal ein paar Tage zu mir abhauen, meine Couch ist immer für dich frei.", bietet er mir an. Ich weiß das Angebot zu schätzen und früher habe ich das auch ziemlich oft in Anspruch genommen, da bin ich dann einfach mal für eine Weile von Frankfurt nach Leipzig abgehauen und habe die Schule geschwänzt, aber auf Dauer ist das natürlich keine Lösung.
Am nächsten Wochenende ist es soweit, mein Vater hat die halbe Familie zum Grillen eingeladen. Am liebsten hätte ich mich in meinem Zimmer eingeschlossen, aber Jessica zwingt mich, den ganzen Abend hübsch auszusehen, zu lächeln und nichts über meine Depressionen oder meine Sexualität zu erzählen. Natürlich würde ich niemals auf sie hören, aber als mein Vater ihr zur Seite eilt und sie unterstützt, bleibt mir gar nichts anderes übrig. Er ist verdammt toxisch geworden, seit er mit ihr zusammen ist. „Charlotte, du bist ja so groß geworden. Möchtest du denn jetzt das Abitur nachholen?", fragt eine Tante von meiner Mama. Mal ganz davon abgesehen, dass mich seit Jahren niemand mehr Charlotte genannt hat und ich den Namen abgrundtief hasse, sollte man jemanden bei der Begrüßung nicht vielleicht zuerst fragen, wie es ihm geht und nicht, ob derjenige jetzt das Abi macht? „Ich mache ab dem nächsten Monat eine Ausbildung. Das Abi will ich nicht machen, ich bin einfach nicht der Typ, der dreizehn Jahre zur Schule gehen möchte.", erkläre ich ruhig. Der Tante von meiner Mutter klappt die Kinnlade nach unten. „Aber ohne Abitur hast du doch gar keine Zukunft. Von was willst du denn später leben? Du kannst dich nicht darauf verlassen, dass du einen Mann findest, der dich versorgt.", entgegnet sie entrüstet. Am liebsten würde ich der blöden Zicke drücken, dass ich sowieso kein Interesse an Männern habe, aber ich habe meinem Vater versprochen, dass ich nicht dafür sorgen werde, dass sie einen Herzinfarkt bekommt. Ich bin fassungslos und zum Glück eilt mir meine große Schwester zur Hilfe. „Charlie macht ab August eine Ausbildung, während dieser Ausbildung wird sie das Fachabi bekommen, danach kann sie immer noch studieren, wenn sie das möchte. Aber eigentlich sollte ihr da niemand rein reden, denn sie ist erwachsen und kann ihre eigenen Entscheidungen treffen. Außerdem brauchst du heutzutage gar kein Abitur mehr. Falls du es noch nicht bemerkt hast, es herrscht Fachkräftemangel und ich bin verdammt stolz auf meine kleine Schwester, dass sie sich für einen Beruf in der Pflege entschieden hat. Das kann nicht jeder und die Tatsache, dass sie das kann, macht sie zu einem ganz besonderen Menschen.", unterstützt mich Tinka. Inzwischen hat sich auch Max zu uns gesellt und ich spüre, dass er gleich ausrastet, also schnappe ich ihn und wir verlassen die Situation.
Max und ich haben uns in das Baumhaus verzogen, das Mama und Papa damals für uns gebaut haben. Kurze Zeit später klettert auch unsere große Schwester nach oben. Sie war schon lange nicht mehr im Baumhaus, weil es sie zu sehr an unsere Mutter erinnert. „Früher waren wir jeden Tag, fast jede freie Sekunde hier oben. Jetzt sind wir kaum noch hier. Irgendwie vermisse ich die alten Zeiten.", bemerkt Tinka mit zitternder Stimme. „Ja, ich weiß noch ganz genau, wie Mama das Baumhaus gebaut hat. Papa wollte ihr unbedingt helfen, aber sie hat ihn nicht gelassen, weil sie genau wusste, dass er zwei linke Hände hat und sich wahrscheinlich den Daumen absägen würde.", bemerkt Max grinsend. „Und du hast auch versucht, mitzumischen. Du hast Max mit dem Hammer so auf den Daumen gehauen, dass Papa mit ihm in die Notaufnahme fahren musste. Er war andauernd mit euch im Krankenhaus, ihr wart echt schlimm.", entgegnet Tinka grinsend. „Ich vermisse Mama und ich finde es richtig unfair, dass ich so wenig Zeit mit ihr hatte.", bemerke ich traurig. „Ich weiß.", flüstert meine große Schwester und nimmt mich in den Arm, was sie übrigens schon sehr lange nicht mehr getan hat. „Du ska inte tro det blir sommar, ifall inte nån sätter fart. På sommarn och gör lite somrigt, då kommer blommorna snart. Jag gör så att blommorna blommar. Jag gör hela kohagen grön. Och nu så har sommaren kommit, för jag har just tagit bort snön.", singt Tinka. Das ist die einzige, dieses Lied noch auswendig kann, dass unsere Mutter mal für uns gesungen hat, wenn wir nicht schlafen konnten. „Das war schön.", flüstert Max mit Tränen in den Augen. So sentimental kenne ich ihn gar nicht, er tut immer so, als wäre er total stark, aber eigentlich ist er ein richtiger Softie.
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Serotonin | LGBTQ
Teen Fiction»Die schlimmste Art, einen Menschen zu vermissen ist, neben ihm zu sitzen und zu wissen, dass er niemals dir gehören wird.« Ich liebte Mavis mit jeder Faser meines Körpers, aber für mich war sie unerreichbar. Vielleicht liebte ich sie deswegen noch...