15. Body issues - again

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Eigentlich gehe ich nie ans Telefon, aber warum auch immer, bin ich heute doch dran gegangen und ich bereue es direkt. „Frau Gregson, bitte kommen Sie morgen früh direkt zu mir in die Praxis. Es gibt etwas, dass ich Ihnen dringend sagen muss.", ertönt die Stimme von meinem Arzt aus dem Telefon. Verdammt, mit Sicherheit wurde wieder etwas auf meinem CT gefunden. Nachdem mein Hirntumor operiert wurde, muss ich immer noch regelmäßig zur Nachkontrolle und zum CT. Positiv und gut gelaunt hat sich mein Arzt definitiv nicht angehört. Vor ein paar Wochen hat er einen Fleck gesehen, den er als mögliche Ursache für eine spätere Multiple Sklerose gesehen hat. Deswegen wollte unbedingt noch ein Bild von meinem Kopf. Sollte ich Multiple Sklerose haben, kann ich mich auch direkt umbringen. In dieser Nacht schlafe ich kaum und als ich dann am nächsten Morgen total müde. Vor meinem Arzt sitze, höre ich seine Worte, wie durch Watte. „Sie haben einen ganz kleinen Tumor, den können die Ärzte im Krankenhaus zum Glück leicht entfernen, Sie müssen also keine Chemotherapie machen. Trotzdem werden Sie sich die Haare zumindest auf der linken Seite komplett abrasieren müssen.", erklärt mein Arzt vorsichtig. Zumindest habe ich kein MS, ich muss zugeben, dass ich ziemlich erleichtert bin. Die Nachricht schockiert mich jetzt gar nicht mal so besonders, für mich ist nur wichtig, dass ich danach wieder fit bin und mit der Diagnose kann ich besser umgehen, als mit einer multiplen Sklerose. Als ich zu Hause bin, erzähle ich den anderen erst einmal nichts davon. Abends bin ich aber ziemlich unruhig, was mein Bruder natürlich sofort bemerkt. Mit ihm rede ich darüber, er ist total schockiert. Deswegen wollte ich niemandem davon erzählen. Die anderen machen sich wahnsinnige Sorgen und ich sehe das eigentlich ziemlich locker. Wohl oder übel muss ich dem Rest der Familie auch davon erzählen. Das ist echt nicht leicht, denn mein Vater ist ziemlich besorgt. Jessica und Tinka weinen sogar. Mir wird das alles zu viel und ich ziehe mich in mein Zimmer zurück.

Dass ich mir die linke Seite von meinem Kopf komplett abrasieren muss, geht mir ziemlich auf die Nerven, aber meine beste Freundin ist an meiner Seite. Sie rasiert mir einen Buzzcut und ich muss zugeben, dass es eigentlich ganz gut aussieht. Bis jetzt hing ich an meinen langen Haaren und ich habe auch ein bisschen geweint, als sie auf den Boden gefallen sind, aber meine neue Frisur gefällt mir auch ziemlich gut. Der Meinung ist übrigens auch Rachel. „Du siehst wunderschön aus.", bemerkt sie. Auch die Reaktionen von Max, Tinka, Jessica und meinem Vater sind positiv. „Die schönsten Tage waren schon immer die Nächte. Keinen Plan zu haben, war schon immer der Beste. Was machst du heute noch? Ich frag nur aus Interesse. Lass mal was machen, was wir nie mehr vergessen. Die besten Freunde, die verrücktesten Nächte. Die Sonne geht auf und wir gehen als letzte. Der erste Trip, der erste Kuss. Wir teilen den letzten Drink, verpassen den letzten Bus. Mucke laut, Arm in Arm, singen wir 'Forever young'. In den Club schwarzgefahren, hatten nie einen Masterplan.", singt Max, während wir wieder einmal nach Hamburg in die Klinik fahren. Ich muss zugeben, dass ich schon ein bisschen ängstlich bin, aber mein großer Bruder macht mir Mut und das wichtigste ist, dass ich nicht alleine bin. Müsste ich das Ganze alleine durchstehen, hätte ich mich wahrscheinlich schon aufgehängt, aber Max bleibt ruhig und er ist für mich da. Als wir im Krankenhaus angekommen sind und der ganze bürokratische Kram erledigt ist, fällt auch die ganze Anspannung ein bisschen von mir ab. Am Abend telefoniere ich mit Naomi, auch sie nimmt mir die Angst vor der OP, zumindest ein bisschen.

Dieses Mal bin ich richtig locker, den Ablauf kenne ich zumindest schon. Ich träume auch nicht solche abgefuckten Sachen, wie bei meiner letzten Operation. Als ich dann wieder aufwache, schaue ich in das Gesicht von zwei Krankenschwestern. „Wissen Sie, wie Sie heißen?", fragt eine der beiden. „Charlotte, aber alle nennen mich Charlie.", antworte ich. „Welches Datum haben wir?", fragt sie weiter. „Boah, keine Ahnung, das wüsste ich aber auch ohne Hirntumor nicht.", entgegne ich und grinse. „Na wenigstens haben Sie Humor.", bemerkt die andere Krankenschwester. Am liebsten würde ich sofort aufstehen, aber ich werde zurückgehalten. Eine halbe Stunde später taucht mein großer Bruder auf. „Charlie, endlich bist du wieder wach!", ruft er und umarmt mich. Wir verbringen den ganzen Tag miteinander, ich bin so unfassbar dankbar für meinen großen Bruder. Am nächsten Tag kommt dann auch unser Papa vorbei, obwohl er keine Krankenhäuser mag, das rechne ich ihm hoch an. Auch Jessica besucht mich. „Charlie, ich habe mir solche Sorgen gemacht. Wie geht es dir? Ich habe dich so lieb.", sprudelt es aus ihr heraus. „Was geht, Bitches?", stört meine Schwester die ruhige Stimmung. Sie lässt sich sofort auf mein Bett fallen und umarmt mich. „Stell dir vor, auf der Station arbeitet ein total süßer Pfleger.", flüstert sie. „Tinka, kannst du auch mal einmal nicht an irgendwelche Typen denken?", fragt unser Vater genervt. Meine Schwester will gerade etwas fieses erwidern, aber Max geht mit ihr nach draußen, um sie zu beruhigen. „Das hätte ich jetzt wirklich nicht sein müssen.", bemerke ich. Mein Vater schaut mich mit verschränkten Armen an. „Stört dich das denn gar nicht?", fragt er. „Ach Quatsch, sie ist eben so und man kann sie nicht verändern. Langsam solltest du sie auch mal so akzeptieren, wie sie ist.", entgegne ich. Genau aus diesem Grund hasse ich es, wenn meine Familie zusammen kommt, eigentlich verstehen uns überhaupt nicht, weil wir so verschieden sind. Eine halbe Stunde später kommen meine Geschwister zurück und ich rieche, dass sie bei Burger King waren. Ein bisschen neidisch bin ich schon, aber als mir Max mir dann eine Tüte mit ganz vielen veganen Snacks hinstellt, bin ich wieder besänftigt.

Ich hasse Krankenhäuser. Nicht nur, weil meine Mutter oft im Krankenhaus war, bevor sie gestorben ist, sondern auch, weil es in Krankenhäusern immer so wahnsinnig langweilig ist. Ich habe ziemlich schnell alle Bücher durchgelesen, die mir Max mitgebracht hat. Mein Bruder hat sich frei genommen, um mich jeden Tag zu besuchen. Nach einer Woche bin ich es wirklich leid, ich habe gefühlt halb Netflix schon durchgeschaut, meine ganzen Podcasts angehört, alle Bücher und Comics gelesen und sobald ich alleine die Station verlassen durfte, habe ich auch das ganze Krankenhaus erkundet. Dabei habe ich mich anfangs mehr als einmal verlaufen, aber inzwischen kenne ich jeden Winkel. Deswegen bin ich überrascht und auch ziemlich begeistert, als Naomi plötzlich in meinem Zimmer steht. „Wie kommst du denn hierher?", frage ich überrascht und sie zuckt nur mit den Schultern. So wie ich sie kenne, frage ich besser nicht weiter nach. Naomi hat mir Ananas mitgebracht. Eigentlich reagiere ich hochgradig allergisch auf Ananas, aber ich habe sie darum gebeten, weil ich nicht einsehen kann, dass ausgerechnet ich gegen die geilste Frucht dieser Welt allergisch sein soll. Sollte ich einen allergischen Schock bekommen, bin ich wenigstens schon im Krankenhaus. Rachel besucht mich nicht, aber ich bin deswegen nicht böse oder enttäuscht. Immerhin fährt man mit dem Auto ungefähr fünf Stunden, wahrscheinlich hat sie gerade im Studium viel Stress und da sie momentan auch nicht so viel Geld hat, wäre wahrscheinlich auch der Sprit zu teuer. Als ich dann endlich entlassen werde, schwöre ich mir, nie wieder ein Krankenhaus von innen zu sehen, zumindest nicht als Patientin. Zu Hause soll ich mich noch eine Weile ausruhen, aber mir fällt die Decke auf den Kopf. Ich beziehe mich in unser Baumhaus und nehme an ein paar online Vorlesungen teil.

In meiner momentanen Einrichtung arbeiten einige Kolleginnen, die ich nicht besonders gut leiden kann. Das scheint auch auf Gegenseitigkeit beruhen, aber mit einer Kollegin verstehe ich mich besonders gut. Als ich dann am Mittwoch wieder zur Arbeit komme, läuft mir Nancy zufällig über den Weg. „Hey, Charlie, schön dass du wieder hier bist. Wie geht es dir?", fragt sie und umarmt mich. Nancy ist ungefähr so alt, wie meine Mama jetzt wäre. Sie hat zwei Söhne in meinem Alter und manchmal benimmt sie sich auch, als wäre sie meine Mama. Komischerweise macht mir das nichts aus, bei Jessica wäre das allerdings ein riesiges Problem. Ich finde mich relativ schnell wieder auf der Arbeit ein. Nancy erklärt mir alles, was sich in meiner Abwesenheit verändert hat und sie versucht, mich zu schonen. Auch meine Bewohner freuen sich, dass ich wieder da bin. Darüber freue ich mich, wie ein kleines Kind. Max erkundigt sich jede Stunde, wie es mir geht, und sagt mir, dass ich nach Hause kommen soll, wenn es mir nicht gut geht, er würde mich auch von der Arbeit abholen. Das ist wirklich süß, aber langsam geht er mir damit auf die Nerven. Die Operation ist jetzt immerhin schon über einen Monat her und er behandelt mich immer noch, als wäre ich ein rohes Ei. Obwohl ich tatsächlich ein bisschen Kopfschmerzen habe, ziehe ich den Dienst durch und nach der Arbeit quatsche ich noch fast eine Stunde mit Nancy. Max wartet geduldig im Auto und als ich einsteige, fragt er, wie mein Tag war. Mein Bruder ist einfach ein Held, ich habe ihn so unfassbar lieb.

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