Kapitel 6: Alex

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Die restliche Woche verlief ohne nennenswerte Zwischenfälle. Aimeé meisterte ihren Schulalltag, unterhielt sich ab und an mit Amber, in seltenen Fällen sogar mit Alexander. Meistens ging es dabei um schulische Themen wie Lernen, das Essen im Pausenverkauf, die Lehrer oder auch die schrecklichen Stühle in den Klassenzimmern, die laut Amber nur benutzt wurden, um die Schüler zu quälen. Der geregelte Alltag trug ebenfalls dazu bei, dass sie sich etwas besser fühlte und freitags nach dem Unterricht eine recht ordentliche erste Schulwoche zurückblicken konnte.

Gerade als sie sich auf dem Schulhof von Amber verabschiedete, sie wollte über das Wochenende nach München fahren, klingelte Aimeés Handy. Noch während sie Amber zuwinkte, zog sie das Smartphone aus der Tasche und blickte auf den Bildschirm, Es war Alex. „Hey, was gibt's?" sie bewegte sich langsam Richtung Schultor. „Wie spontan bist du?" Kam es lediglich als Frage zurück. Aimeé stoppte und zog verwundert beide Brauen hoch. „Inwiefern?" Sie konnte schon wieder dieses verschwörerische Grinsen in Alex Stimme hören und sie war sich nicht sicher, ob ihr das Gefallen sollte.

„Ich könnte mich jetzt in den nächsten Zug setzen und vorbeikommen, vorausgesetzt du willst mich mal wieder live und in Farbe sehen." Aimeé suchte kurz nach den Richtigen Worten. „Wie... jetzt sofort, für das ganze Wochenende?" „Ich dachte zwar nur an heute, aber wenn du mich so lange erträgst gerne auch das Ganze Wochenende." In ihrem Kopf begann eine Stimme lauthals zu schreien, es klang unfassbar verlockend. Alex mal wieder richtig zu treffen, mit ihr zu sprechen, sie einfach mal wieder zu sehen, es klang zu schön, um wahr zu sein.

Sie ignorierte die andere, deutlich leisere, Stimme in ihrem Kopf die ihr davon abriet. „Auf jeden Fall!" Die Antwort kam etwas zu enthusiastisch, es war ihr etwas peinlich. „Oho, ich werde sehnlichst erwartet, wie ich höre?" „Leck mich." Gab Aimeé mit einem leichten Lachen zurück. „Und pack deinen Koffer, du bleibst übers Wochenende. Dann müssen wir nur meinen Kühlschrank etwas aufstocken..." „Daran soll es nicht scheitern, ich melde mich später, wenn ich im Zug sitze. Ich muss mich beeilen." Kurz war es still. „Ich freue mich auf dich Asai." Sie lächelte zufrieden, „Ich mich auch auf dich Alex." Dann legte sie auf und starrte glücklich ihr Handy an.

Sie wusste nicht, ob es eine gute oder eine schlechte Entscheidung gewesen war dem zuzustimmen aber nach dieser ersten ganz guten Woche fühlte sie sich beflügelt. Beflügelt und bereit etwas zu versuchen. Aimeé ging weiter über den Hof, durch das gusseiserne Tor der Schule und bemerkte Anna die in ihrer Nähe stand und scheinbar auf Jemanden wartete, wahrscheinlich Alexander. Ihr Lächeln erstarb als sie Annas Blick sah. Schon wieder starrte diese sie an als würde sie ihr am liebsten den Hals umdrehen. Sofort wendete sie den Blick ab und eilte durch das Tor, was für ein Problem hatte dieses Mädchen? Sie versuchte Anna aus ihren Gedanken zu vertreiben, es war Wochenende, Alex kam zu Besuch... es konnte nur besser werden. Sie musste noch einiges tun, aufräumen, einkaufen, staubsaugen und und und...

Sofort als sie die Tür ihrer Wohnung öffnete ging sie zuerst in die Küche. Dabei betrachtete sie auf dem Weg durch das Wohnzimmer ihr kleines chaotisches Reich und verdrehte leicht die Augen. Als sie beim Kühlschrank ankam war das Ergebnis ähnlich ernüchternd, es herrschte beinahe gähnende Leere. Bis auf etwas Butter, Milch, ein paar Eier und einem Glas Joghurt befand sich nichts mehr darin. Sie hätte also so oder so einkaufen müssen, sie entschloss sich dazu es wäre am besten, wenn sie das mit Alex zusammen erledigen würde. Auf dem Weg zum kleinen Bahnhof der Stadt gab es einen Supermarkt, dort konnten sie alles besorgen was sie brauchen würden.

Das änderte jedoch nichts an dem chaotischen Zustand ihrer Wohnung. Wann immer Aimeé sich zu sehr auf andere Dinge konzentrierte, glich ihr Umfeld einem Schlachtfeld. Über der Lehne des Sofas hing noch ein BH, der längst in die Waschmaschine sollte, auf dem Tisch lagen leere Chipstüten und eine angefangene Flasche Cola, die sie ohne Kohlensäure wahrscheinlich wegkippen konnte. Und in ihrem Zimmer war es noch schlimmer. Ein Seufzer entfuhr ihren Lippen, immerhin würde Alex etwas brauchen, bis sie hier ankam. Vielleicht war es ein Zeichen des Universums, das sie sich dieses Wochenende erst verdienen musste... vielleicht sollte sie auch einfach regelmäßiger aufräumen und sich um ihre Wohnung kümmern.

Es dauerte insgesamt 3 Stunden, bis alles wieder sauber und gemütlich war. Hauptsächlich dauerte es so lange, weil Aimeé immer wieder ihre Arbeit pausierte, um in den herumliegenden Mangas zu lesen die sie eigentlich wegräumen wollte. Also war alles wie immer. In der Zwischenzeit hatte Alex sie informiert das sie im Zug saß und wohl gegen 17:30 Uhr ankam. Sie hatte also noch genug Zeit um zu duschen, einerseits weil sie sich nach ihrer Aufräumaktion fühlte als hätte sie einen Schleim umarmt, andererseits weil sie das Bedürfnis hatte sich für Alex wenigsten ein bisschen aufzubrezeln. Auch wenn das für Aimeé bedeutete das sie sich zwischen 3 gleichaussehenden Jeans und einer Auswahl von T-Shirts mit Nerdmotiven entscheiden musste. Ihre Wahl fiel schließlich auf ein Motiv ihres Lieblingsspiels, Borderlands 2.

Mit einer guten halben Stunde Restzeit auf der Uhr machte sie sich auf den Weg zum Bahnhof. So sehr sich Aimeé auch freute, so nervös war sie auch. Je näher sie dem Bahnhof kam, desto härter schlug ihr Herz. Als sie am Bahnsteig ankam, um dort auf Alex zu warten, hatte sie das Gefühl es würde ihr gleich aus der Brust springen. Sie war zu früh, wie beinahe immer bei wichtigen Terminen. Die Warterei am Bahnsteig verstärkte ihre Nervosität nur, sie begann auf und abzulaufen, um sich etwas zu beruhigen.

Als schließlich einige Minuten später der Zug einfuhr hatte sie das Gefühl ihre Hände waren so feucht als stände sie vor der Entscheidung eine Klippe hinunterzuspringen. Eine kleine Stimme, ganz hinten in ihrem Kopf befahl ihr zu rennen. Egal wohin, einfach weg. Die zweite, deutlich lautere Stimme jubelte lautstark auf als sie sah, wie Alex aus dem vorletzten Waggon stieg.

Noch immer trug Alex ihre blauen Haare, mittlerweile waren sie türkis anstatt dunkelblau, mittellang und auf der rechten Seite bewusst länger als auf der Linken. In dem Ohr, das nicht von Haaren bedeckt war, steckten zwei einfache Ohrringe, das Loch wo ehemals ein dritter Ring drinsteckte, war kaum noch sichtbar. Auf ihrem ärmellosen Tanktop sah man eine ägyptische Gottheit, Aimeé war sich nicht mehr ganz sicher um welche genau es sich dabei handelte. Alex' linker, tätowierter Arm hob sich zum Gruß und sie kam langsam auf Aimeé zu.

„Heyho Asahi." Sie grinste und freute sich das Alex ihren Zweitnamen nutzte anstelle des Spitz- oder gar des ersten Namens. „Na, wie war die Fahrt?" Gleich nachdem sie die Frage aussprach, hasste sie sich dafür, gab es eine noch unpersönlichere Begrüßung? Auch Alex schien etwas unsicher, entschloss sich allerdings dazu, ihre Arme leicht auszubreiten. Aimeé zögerte zwar kurz, ging aber gerne auf dieses Angebot ein und legte ihre Arme um Ihr Ex-Freundin. „Es tut gut dich mal wieder zu sehen." Sie lächelte.

Alex benutzte scheinbar noch immer das Gleiche Shampoo, ihre Haare rochen wunderbar nach Orangen. Aimeé widerstand dem Impuls ihre Nase noch tiefer in die blauen Haare zu drücken und löste sich aus der Umarmung. Sie bemerket erst jetzt das Alex einen einfachen, abgewetzten Rucksack dabeihatte, vor der Umarmung hatte sie ihn scheinbar abgelegt. Tatsächlich kannte sie diese traurige Existenz eines Rucksacks, bedeckt mit Pins und Flicken verschiedenster Motive. Auch erwischte sie sich dabei, wie sie Alex Körper etwas genauer musterte.

„Da ist nichts was du nicht schon kennst, noch hab ich keine Neuen." Gab Alex daraufhin grinsend zurück. „Hm?" Aimeé blickte ihr ertappt in die Augen und lächelte leicht schüchtern. „Keine neue Tattoos. Zumindest noch nicht." „Wann kommt dein ägyptisches Zeugs, nach dem Studium?" Noch während sie sprach, bewegte sie sich langsam Richtung Ausgang, Alex folgte ihr.

„Korrekt, wenn ich mich offiziell Ägyptologin nennen kann. Wenn ich den Doktor schaffe, gönne ich mir ein ganz spezielles." „Sprach die Studentin im zweiten Semester." Sie konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Immerhin studiere ich schon. Hast du dich schon nach Studienplätzen umgesehen?" Aimeé schüttelte den Kopf. „Eins nach dem anderen. Wir müssen übrigens gleich noch einkaufen. Ich dachte du kannst dir gleich selbst mitnehmen was do so brauchst, bevor ich mir was anhören darf." „Ich finde auch so einen Grund, um mich zu beschweren, keine Sorge."

„Ist mir schon klar. Beschweren..." „Um des Beschweren Willens." Beendete Alex ihren Satz und schmunzelte. „Aber gib Bescheid, wenn es zu teuer wird." „Lass mal stecken, du bist doch eine arme Studentin." „Und du bist keine arme Schülerin?" „Nah, Tante Tomomi finanziert mich ja... plus andere Bezüge und so..." Sie zuckte mit den Schultern, ließ diese dann schlaff hängen. Sie wollte das Wort ‚Waisenrente' nicht aussprechen. Alex schien das zu merken und legte ihr tröstend, aber wortlos einen Arm um die Schulter. Lediglich einen intensiven Blick tauschte sie mit ihrem Gegenüber aus, bevor sie sich auf den Weg zum nahen Supermarkt machten.

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