You're enough

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Julian

„You make me feel things I didn't believe in anymore."
- Unknown

Besorgt mustere ich Kai von der Seite, während er seinen Koffer packt. Morgen fahren wir mit den anderen nach Holland und schlafen deswegen in der WG. Unter anderem aber auch weil der jüngere noch nicht gepackt hat. Seit dem Besuch in Aachen umgeht mein Freund das Thema Jan oder sein Outing komplett, was mir immer mehr Sorgen bereitet. Aber jedes Mal, wenn ich es ansprechen möchte, weicht er mir aus und wechselt das Thema. Natürlich will ich ihn nicht bedrängen und lasse es ihm deshalb immer wieder durchgehen. Nicht mal über die Artikel haben wir gesprochen oder die Instagram Beiträge. Alles was mit dem Outing zutun hat wird konsequent umgangen. Dazu tut er noch so, als würde ihn das Ganze nicht im Geringsten interessieren.
„Freust du dich schon auf morgen?", fragt er grinsend.
„Na klar, du dich auch?" Der braunhaarige nickt und stopft die letzten Sachen in seinen Koffer.
„Selbstverständlich, ich will dir unbedingt alles zeigen. Als Kind war ich so gerne da", erzählt er, was mich lächeln lässt. Ich freue mich wirklich darauf ihn in einer Umgebung aus seiner Kindheit zu sehen. Ich stelle mir das richtig schön vor ihn so zu erleben. Vor allem, weil er immer so süß ist, wenn er sich für etwas begeistert.
„Ich bin gespannt", grinse ich und lasse mich auf sein Bett fallen.
„Ey du bringst meine Sachen durcheinander", beschwert er sich lachend. Ich habe nicht mal bemerkt, dass ich mich auf seine T-Shirts gesetzt habe.
„Ups tut mir leid", schmunzle ich und rutsche von seinen Sachen.
„Schon gut Juli", winkt er ab und streicht mir durch die Haare. Eigentlich will ich die Stimmung zwischen uns nicht wieder trüben, aber ich will auch nicht in den Urlaub fahren mit so einem großen Thema, das irgendwie zwischen uns steht. Und dieses Mal lasse ich es ihm nicht durchgehen, wenn er wieder ausweichen will. Ich sollte keine Angst haben meinen eigenen Freund auf solche Dinge anzusprechen, aber ich habe keine Ahnung wie er darauf reagiert, wenn er in die Ecke gedrängt wird. Bis jetzt war ich noch nie mit ihm in so einer Situation. Bis auf die Sache nach dem verlorenen Spiel, in dem ich ihn nicht aufgestellt habe, hatten wir noch nie Streit. Ich schlucke und nehme meinen Mut zusammen, bevor ich etwas sagen kann.
„Wie geht es dir eigentlich wegen der Sache mit Jan? Hat er sich nochmal bei dir gemeldet?", bringe ich schließlich hervor.
„Da gibt es auch so eine super Eisdiele in dem Ort. Da müssen wir unbedingt hin", ignoriert er meine Frage. Ich seufze und schüttle den Kopf.
„Kai bitte..." Er verschränkt die Arme vor der Brust und schnaubt genervt.
„Was Jule?" Seine Kiefermuskeln treten hervor, so fest presst er die Zähne aufeinander.
„Wir müssen darüber reden. Es geht dir offensichtlich nicht gut und ich will das nicht weiter ignorieren", erkläre ich ihm sanft mein Anliegen. Er schüttelt langsam den Kopf, bevor er sich von mir abwendet.
„Nett, dass du dich um mich sorgst, aber das ist nicht nötig. Es geht mir bestens", knurrt er. Allein diese Reaktion zeigt mir doch schon, dass das Gegenteil der Fall ist. Der braunhaarige kann mich nicht mal ansehen, während er spricht.
„Kai ich weiß, dass das alles nicht so gelaufen ist, wie wir uns das gewünscht haben, aber es zu verdrängen hilft dir nicht." Das musste ich selbst am eigenen Leib erfahren, als ich jede Erinnerung an den Angriff verdrängt habe. Ich hatte nichts davon, außer Alpträume und noch mehr Angst. Jetzt wo die meisten von ihnen gefasst sind fühle ich mich um einiges sicherer. Aber auch, weil ich mir erlaubt habe Angst zu haben und zu weinen, wenn ich mit Marco darüber gesprochen habe, wie es mir damit geht. Kai konnte und wollte ich nicht auch noch damit belasten.
„Du weißt einen Scheiß, Jule. Mein eigener Bruder sieht mich nicht mehr als normalen Menschen an. Du hast keine Ahnung wie weh mir das tut oder wie sich das anfühlt!", ruft er aufgebracht und fährt zu mir herum. Ich ziehe die Augenbrauen hoch und sehe ihn ungläubig an. Das hat er doch nicht ehrlich gesagt, oder? Seine Augen glänzen und sein Gesicht ist wutverzerrt. Ich schnaube und nicke ihm zu.
„Ach so ich habe keine Ahnung, ja? Was glaubst du denn wie sich das mit Jannis oder meinem Vater für mich anfühlt?", frage ich verletzt und verschränke die Arme vor der Brust. Die Wut weicht aus seinem Gesicht und er wird ganz blass. Seine Augen weiten sich, während seine Hand nervös durch seine Locken fährt.
„Jule ich wollte nicht...", stammelt er, doch ich bringe ihn mit meinem Blick zum Schweigen. Er schaut betreten zu Boden und nestelt an seinem Sweatshirt herum.
„Du hast es vergessen, ist okay. Ich will dir keinen Vorwurf machen, Havy. Ich will doch nur, dass du verstehst, dass wir beide in dieser Situation stecken. Wir sind ein Team und wir stehen das gemeinsam durch. Schließ mich nicht aus." Kai schaut zu mir auf, seine Augen sind glasig und er sieht aus, als würde er jeden Moment anfangen zu weinen. Ich stehe von seinem Bett auf und ziehe ihn in meinen Arm. Erst steht er einfach nur regungslos da, doch dann drückt er mich an sich und vergräbt seinen Kopf an meiner Schulter. In beruhigenden Kreisen streiche ich über seinen Rücken und drücke immer wieder Küsse in seine Haare.
„Es tut mir leid. Ich wollte dir keine Sorgen machen", nuschelt er. Vorsichtig drücke ich ihn von mir weg und räume seinen Koffer und seine Sachen vom Bett, damit wir uns zusammen hineinlegen können. Sofort verkriecht Kai sich unter seiner Decke und kuschelt sich an mich, als ich ebenfalls darunter schlüpfe.
„Ich sorge mich doch so, noch viel mehr um dich", erkläre ich. Immer enger kuscheln wir uns aneinander, bis es nicht mehr enger geht.
„Willst du mir erzählen, was wirklich in dir vorgeht?", frage ich hoffnungsvoll. Ich spüre sein Nicken an meiner Schulter und wir lösen uns etwas voneinander, um uns ansehen zu können. Beide liegen wir auf der Seite und sind einander zugewandt. Der jüngere atmet tief durch und seufzt schwer.
„Jan wollte sich mit mir treffen, aber ich habe seine Nachrichten ignoriert. Ich kann nicht mit ihm reden und ich will auch gar nicht. Das eine Mal hat mir schon gereicht. Aber Jan ist halt auch mein großer Bruder und ich habe immer zu ihm aufgeschaut. Seine Meinung war mir immer so wichtig und dass gerade er mich jetzt so... anders sieht hat mich echt verletzt. Und irgendwas in mir hofft, dass er sich vielleicht entschuldigen möchte. Aber was, wenn nicht? Was, wenn er mich nur wieder fertigmacht und beleidigt und mich in eine Konversionstherapie oder so schicken will?", erzählt er mir endlich seine Sorgen und was ihn so beschäftigt. Langsam nicke ich und lasse seine Worte sacken.
„Vielleicht solltest du nochmal mit ihm sprechen, auch wenn du eigentlich nicht willst. Nach dem Urlaub in der Öffentlichkeit, damit es nicht wieder so eskalieren kann und wenn du willst, komme ich mit. Ich kann mich an einen anderen Tisch setzen oder neben dich, wenn du das brauchst. Aber er ist dein Bruder und eigentlich liebt er dich und will nur das beste für dich." Eine Träne löst sich aus seinem Auge und läuft auf das Kissen unter seinem Kopf.
„Das ist alles so scheiße. Warum kann er nicht so reagieren wie Lea?"
„Ich weiß es nicht, Baby. Vielleicht hat er Vorurteile oder negative Erfahrungen oder Freunde mit diesen Ansichten. Wir wissen es nicht und das wird sich auch nicht ändern, wenn du nicht mit ihm sprichst", gebe ich meinem Freund zu verstehen. Nachdenklich kaut er auf der Unterlippe herum, bis er schließlich aufseufzt und mir durch die Haare streicht.
„Du hast ja recht, Jule", brummt er. Ich drücke ihm einen Kuss auf die Lippen, den er zaghaft erwidert.
Ihn bedrückt noch etwas, das kann ich in diesem Moment deutlich sehen.
„A-aber das ist nicht alles", gibt er zu. Besorgt mustere ich ihn und warte bis er weiterspricht.
„Die ganzen Kommentare bei Instagram machen mich fertig. Ich weiß gar nicht was ich tun soll, ich wünschte ich hätte mein Profil auf privat gestellt, aber dafür ist es jetzt deutlich zu spät", murmelt er. Mir war nicht mal bewusst, dass er auch solche Kommentare bekommt. Man bin ich ein Trottel. Tröstend ziehe ich ihn an mich und drücke ihm einen Kuss auf die Stirn. Ich weiß noch, wie wenig ich am Anfang damit umgehen konnte... Aber irgendwann ist man so abgestumpft.
„Soll ich dir zeigen, wie man die Kommentare ausschaltet? Ich habe gar nicht mehr daran gedacht, dass du jetzt auch ein bisschen in der Öffentlichkeit stehst. Bekommst du viele so schlimme Kommentare?" Er schüttelt den Kopf und seufzt wieder.
„Nein viele nicht, aber sie sind da und machen mir jedes Mal klar, dass es immer Menschen geben wird, die uns niemals akzeptieren werden." Sein Blick ist traurig und seine Worte klingen verbittert. Ich wünschte er hätte eher mit mir darüber gesprochen. Vielleicht hätten wir ihm das ersparen können. Ich kann mir schon denken, was das für Kommentare sind. Ich habe selbst genug davon. Aber es ist mir egal, was irgendwelche Arschlöcher über unsere Beziehung denken. Schlimm finde ich es eigentlich nur, wenn Drohungen dabei sind...
„Du könntest einen zweiten Account erstellen. Einen privaten, wo du nur Freunde und Familie annimmst", schlage ich vor, „und bei deinem öffentlichen schalten wir einfach die Kommentare aus oder lassen nur Menschen mit blauem Haken kommentieren oder so." Das Gesicht des braunhaarigen hellt sich auf und ein Lächeln stiehlt sich auf seine Lippen.
„Danke Jule, du bist der beste", strahlt er und küsst mich überschwänglich. Eigentlich fühle ich mich nicht so, als hätte ich viel ausgerichtet, aber seine Worte bringen mich trotzdem zum Grinsen.
„Ach Kai ist doch keine große Sache. Versuch nicht so viel auf diese Idioten zu geben. Du bist so ein toller Mensch. Du bist richtig und gut genauso wie du bist", versichere ich ihm. Wieder legt er seine Lippen auf meine.
„Du weißt echt immer, was du sagen musst, oder?", schmunzelt er und küsst mich erneut. Die meiste Zeit habe ich das Gefühl nur Müll zu reden, aber wenn es dem jüngeren hilft, scheint es nicht so verkehrt zu sein. Das ist schließlich alles, was für mich zählt. Eine Sache gibt es allerdings noch, die ich jetzt, wo er schon so ehrlich zu mir war auch ansprechen sollte.
„Ich muss dir noch etwas gestehen", fange ich an und sehe, wie mein Freund skeptisch eine Augenbraue hebt.
„Na dann erzähl mal. Was hast du angestellt?"
„Angestellt habe ich eigentlich nichts aber jemanden." Verwirrt runzelt er die Stirn und zieht die Oberlippe nach oben.
„Hä? Was habe ich denn verpasst?" Eigentlich ist die Situation nicht wirklich lustig, aber Kai guckt so blöd, dass ich mir ein Lachen nicht verkneifen kann.
„Oh man tut mir leid ich will gar nicht lachen aber, bitte hör auf so zu gucken." Er zieht nur eine noch blödere Grimasse und ich pruste wieder los.
„Lenkt dich das etwa ab?", fragt er belustigt. Augenverdrehend schlage ich ihm sanft gegen die Brust.
„Man ich wollte dir doch-"
„Gestehen, dass du einen Bodyguard eingestellt hast, seitdem wir keinen Polizeischutz mehr haben, der mich auf Schritt und Tritt verfolgt?", unterbricht er mich. Mit großen Augen sehe ich ihn an. Wenn er das die ganze Zeit gewusst hat, wieso hat er dann nichts gesagt.
„Du wusstest davon?" Er richtet sich auf und lehnt sich mit dem Rücken an das Kopfteil des Bettes, während er den Kopf schüttelt.
„Nö, aber Mase hat ihn bemerkt und zur Rede gestellt. Natürlich hat er danach sofort bei WhatsApp Bericht erstattet. Also weiß ich es eigentlich erst seit ein paar Stunden", erklärt Kai wenig beeindruckt. Ich bin unsicher, wie ich sein Verhalten deuten soll. Findet er die Bodyguards in Ordnung?
„Also hast du kein Problem mit den beiden?"
„Ich kenne sie nicht, aber mit ihrer Existenz an sich nicht, nein. Ich verstehe nur nicht ganz, warum du sie vor mir verheimlicht hast", meint der dunkelhaarige. Erleichtert darüber, dass er nicht sauer oder enttäuscht von mir ist atme ich auf.
„Ich dachte du würdest mich für übervorsichtig halten und es scheiße finden", gestehe ich ihm. Er schüttelt wieder den Kopf.
„Ach Jule, wenn du wirklich noch Angst hast, dann ist es dein gutes Recht jemanden einzustellen. Ich halte dich nicht für übervorsichtig. Nach allem, was du durchgemacht hast oder wir, ist das mehr als verständlich." Natürlich kann er mich nachvollziehen. Kai kann mich fast immer nachvollziehen. Keine Ahnung, womit ich diesen Mann verdient habe. So verständnisvoll und süß, wie er ist.
„Danke Havy. Ich denke, ich werde sie auch nicht für immer brauchen, aber im Moment habe ich einfach noch zu viel Angst und die Sache mit dem Outing hat es nicht gerade besser gemacht", gestehe ich ihm und lege meinen Kopf auf seinem Schoß ab. Er nickt langsam und lächelt dann zu mir runter, dabei streicht er mit den Fingern durch meine Haare.
„Dieses Ding mit dem Reden über Gefühle und so ist manchmal echt schwer, aber danach fühlt man sich immer besser." Ein seliges Lächeln erscheint auch auf meinem Gesicht. Ich fühle mich nach diesem Gespräch auch sehr viel besser.
„Da hast du recht, Baby. Danke, dass du mir das anvertraut hast."
„Du bist der einzige, mit dem ich so richtig über diese Dinge sprechen kann. Ich wollte dich nur nicht belasten mit meinem ganzen Kram." Seine Finger gleiten weiter durch meine Haare und massieren sanft meine Kopfhaut. Ich seufze leise und kuschle mich näher an seine Beine.
„Ich will alles wissen, was in dir vorgeht. Keine Ahnung zu haben was wirklich mit dir los ist, finde ich viel belastender", versichere ich ihm. Der jüngere schmunzelt und lehnt seinen Kopf wieder an die Wand und das Kopfteil des Bettes.
„Ist notiert. Das gilt übrigens auch für dich. Falls du eine Putzfrau einstellst, erzähl es mir bitte",
witzelt er und ich lache laut auf.

Forbidden Desire - BravertzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt