12. Verloren

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Glasige Augen, Gestank nach Bier,
Heute wird keiner mehr drangsaliert
Keiner hat mehr Angst vor dir
Eher hat man Angst um dich
Wie du, bis zum Anschlag dicht,
Unter der Neonlicht-Tankstellenreklame sitzt"
~ Kummer

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Als Ellie zum zweiten Mal den dritten Stock betritt, ist ihre Mutter immer noch auf dem Flur. Sie sitzt jetzt aber zusammengekauert auf dem Boden gegen die Wand gelehnt. Sie weint. „Mama! Was ist passiert?", ruft Ellie und rennt auf ihre Mutter zu. „D-der Zustand von d-d-deinem Vater wird i-immer schlechter...", sagt sie und schluchzt so sehr, dass sie nach Luft ringen muss. „W-wo warst du?", fragt sie ihre Tochter. Soll Ellie ihr jetzt schon von Billy erzählen? Lieber nicht. Vielleicht ist er morgen schon wieder ein Arschloch zu ihr.

Plötzlich geht eine Tür auf. Dr. Wilson tritt aus seinem Büro - der behandelnde Arzt von Ellies Vater. Dr. Wilson verzieht eine ernste Miene als er auf die zwei Frauen auf dem Boden zukommt. Ellies Atem erschwert sich, denn sie ahnt nichts gutes. Sofort springt Katy auf: „Dr. Wilson, gibt es etwas Neues von meinem Mann?"

Für eine Weile schaut Dr. Wilson sie einfach nur an. Dann wechselt sein Blick auf Ellie. „Frau Smith, wollen wir vielleicht in meinem Büro reden?", fragt er Katy. „Denken Sie ich kann das nicht mit hören??? Los, sagen sie es schon. Mein Vater ist tot, oder?", platzt es plötzlich aus Ellie heraus. Jahrelang hat ihr Katy vieles verheimlicht, sie durfte oft nicht mit in die Klinik ihren Vater besuchen. Immer hat ihre Mutter und auch die Ärzte alles verschönert, um das kleine Mädchen zu schützen.

Aber Ellie ist kein kleines Mädchen mehr. Sie weiß genau was vor sich geht und sie hat es satt, noch weiter geschützt und vertröstet zu werden. Ellie bemerkt wie ihre Mutter lautstark weint und Dr. Wilson sie mit bohrendem Blicken anschaut. Aber Ellie hält den Blickkontakt mit dem Doktor stand und ihre Blicke sprechen Bände.

Dr. Wilson legt seine eine Hand auf Katys Schulter, als er sagt: „Herr Smith's Organe haben heute endgültig ihre Funktion eingestellt. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass er nicht mehr Nachhause kommen wird. Er ist heute verstorben."

Als der Arzt den Satz beendet, fällt Katy auf die Knie und schlägt die Hände vor ihrem Gesicht zusammen. Sie weint bitterlich. Ellie steht immer noch da. Mit leeren Augen schaut sie Dr. Wilson an. „Ellie..", sagt er, aber Ellie unterbricht ihn: „Lassen Sie es! ICH WERDE EH KEINEN UNTERSCHIED BEMERKEN!", den letzten Teil des Satzes schreit sie aus tiefster Kehle heraus. Sie bemerkt das Brennen in ihrem Hals, die Tränen in ihren Augen und die Enge in ihrer Brust, als sie den Flur entlang zum Treppenhaus rennt.

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Draußen angekommen hört sie nicht auf zu rennen. Sie rennt immer weiter, so schnell sie nur kann. Als sie Billy ihren Namen schreien hört, rennt sie trotzdem weiter. Als sie bemerkt, dass Billy ihr hinterher rennt und nach ihr schreit, verschnellert sie ihre Schritte nochmals. Sie rennt an anderen Besuchern der Klinik vorbei und bemerkt gar nicht, dass sie einige davon fast umstößt. Alles um sie herum verschwimmt - sie möchte nur noch weg. Ganz weit weg.

Das schlimme ist, dass Ellie nicht wirklich traurig ist, dass ihr Vater jetzt endgültig weg ist. Er war sowieso nie da. Das was sie eigentlich traurig macht ist, dass sie ihn nie wirklich kennengelernt hat.
Oft hatte Katy ihrer Tochter alte Fotos von David gezeigt, in seinen jungen Jahren war er stolzes Mitglied in einem Biker-Club. Er hatte aber schon immer mit Aggressionsproblemen zu kämpfen. Als David dann damals in einem schweren Hurricane verletzt wurde und er und Katy ihr Haus dadurch verloren, brach für ihn eine Welt zusammen. Er durfte nicht mehr arbeiten und ebenfalls kein Motorrad mehr fahren -  damit kam er nicht klar.

Schon seit jungen Jahren hatte er mit depressiven Episoden zu kämpfen. Nach dem Hurricane fiel er in eine dauerhafte, schwere Depression und griff dann später zur Flasche. Als Ellie diese Geschichte von ihrer Mutter zu hören bekam, wurde ihr einiges klar. Die kaputte Psyche hatte sie von ihrem Vater geerbt. Ellie spricht nicht gerne darüber und es weiß auch niemand, nichtmal Jane. Dass Ellie selbst regelmäßig zur Therapie muss, würde sie niemals jemandem sagen. Sie schämt sich dafür.

„ELLIE! ELLIIEEE! BLEIB DOCH STEHEN!", hört sie Billy hinter sich keuchen. Aber sie rennt weiter. Tränen rasen ihr durch den Wind die Wangen hinab.

Hinter dem Gebäudekomplex der Klinik befindet sich eine große Wiese, die nach und nach in ein Waldstück führt. Ellie beschließt über diese Wiese zu rennen, um in den Wald zu gelangen. Als sie während des Rennens hinter sich blickt, sieht sie immer noch Billy hinter ihr rennen.

Ellie bemerkt wie ihr die Luft ausgeht, der Knoten in ihrer Brust schnürrt sich immer weiter zu. Sie verliert an Tempo. Billy nutzt diese Gelegenheit und nimmt ein letztes Mal deutlich an Geschwindigkeit zu, um das Mädchen zu erreichen. Als er sie berühren kann, verlangsamt er sein Tempo und stürzt sich auf sie. Die beiden fallen auf die Wiese.

Einige Blütenpollen werden durch ihren Fall aufgewirbelt. Bienen summen umher und Schmetterlinge fliegen erschrocken von den Grashalmen ab.

„MAN, WAS SOLLTE DAS? Hab ich dir weh getan?", keucht Billy und dreht das Mädchen auf den Rücken. Er legt sich schräg über sie und umklammert ihren sich hektisch hoch und runter bewegenden Bauch. „Nein, d-du n-nicht", sagt sie und bricht nun endgültig in Tränen aus.

Billy legt seinen Kopf auf Ellies Brustkorb ab und drückt sie fest an sich. Er hört ihr Herz schlagen - als würde es jeden Moment explodieren. „Ellie, beruhig dich. Ich bin doch bei dir", flüstert Billy. Ellie weint noch mehr als Billy seinen Satz beendet. Hat er was falsches gesagt?

Sie weint und schreit wie ein Säugling nach der Geburt. Billy ist völlig überfordert - was ist nur los mit ihr? Nun weiß er, dass sie ihm vorher nur die halbe Wahrheit gesagt hat. „Was ist passiert?", fragt er sie, als er ihren Körper noch fester umklammert.

„Er ist g-gestorben.", stottert Ellie. „Wer? Dein Dad?", Billy blickt sie fassungslos an. Aber Ellie kann seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, sie weint immer noch wie ein kleines Baby. „J-ja, gerade eben", antwortet sie leise. 

Minutenlang liegen die beiden im hohen Gras. Billy traut sich einfach nicht, Ellie noch weitere Fragen zu stellen. Als Ellie aber nach mehreren Minuten immer noch nicht aufhört zu weinen und ihre Brust sich immer und immer schneller hebt und senkt, macht er sich Sorgen.

„Ellie, hör mir zu", sagt er, als er seinen Kopf hebt und genau über ihrem Gesicht ist. Ihre Mascara ist verlaufen - ihre Augen rot und geschwollen. Aber das macht Billy nichts aus - er findet sie trotzdem wunderschön. Mit einem Mal stoppt Ellie und schaut ihm in die Augen. Billy streichelt mit seinen Fingern über Ellies nasse Wange: „Ellie. Ich bin gerade hier mit dir. Du bist nicht alleine.", flüstert Billy, bevor er seine Lippen auf Ellies drückt.

Als sich die beiden voneinander lösen hat sich Ellies Atmung etwas beruhigt. „M-mama ist immer noch da drin", sagt Ellie plötzlich. „Sollen wir nochmal hin und sie abholen?", schlägt Billy vor. Ellie zuckt nur mit den Schultern. Billy bemerkt, dass sie komplett durcheinander ist.

Als sich Ellie aufsetzt und Billy mit schmerzvollem Blick anschaut, sagt sie: „Ich hoffe ich verliere dich nicht auch noch."

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Billy ist ja gerade ziemlich nett und einfühlsam. Oder ist das mehr Schein als Sein...?

Danke fürs lesen! Ich hoffe ihr mochtet die bisherigen Kapitel. <3
Hab' so Spaß am Schreiben, dass alles aus mir heraussprudelt 🙇🏻‍♀️🫶🏼

𝚜𝚊𝚟𝚎 𝚖𝚎! [Billy Hargrove/Stranger Things FF]  Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt