Nico

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DRIINNG!! Verschlafen hob ich meine rechte Hand, um den bescheuerten Wecker auszuschalten. Warum zur Hölle hatte ich mir auch in den Ferien einen Wecker gestellt? Da fiel es mir siedend heiß wieder ein: Ich hatte keine Sommerferien mehr. Heute war der erste Schultag. Ich stöhnte genervt auf. Einige Minuten blieb ich noch liegen und trauerte den Ferien hinterher, die viel zu schnell vergangen waren. Dann schwang ich meine Beine aus dem Bett und streifte mir ein paar Klamotten über. Ich ging in die Küche, griff nach einem Apfel für unterwegs und verließ meine Wohnung. In der Schule angekommen, drängte ich mich durch die Masse an Schülern und suchte nach meinen Freunden. Wie immer ignorierte ich die Blicke der anderen, die mir folgten. Wenig später hatte ich meine Freunde unter der großen Linde im Pausenhof entdeckt. Ich lief zu ihnen und stellte mich zwischen Emily und Max. Sie unterhielten sich gerade über eine neue Schülerin, die in unsere Jahrgangsstufe kommen würde. Als ich mich erkundigte, wer die neue Schülerin war, wies Emily mit dem Kopf auf ein Mädchen, das allein in einer Ecke des Pausenhofs stand. Sie hatte wunderschöne, rabenschwarze Korkenzierlocken, die ihr bis zur Taille reichten und ich konnte sogar über den halben Pausenhof die intensive Farbe ihrer smaragdgrünen Augen wahrnehmen. Trotz der für Stockholm noch sehr warmen Temperaturen, trug sie schwarze Jeans, die sie mit einem weißen Pullover kombiniert hatte. Ich fand sie vom ersten Augenblick an faszinierend; wieso, das wusste ich auch nicht so genau. Es hatte mit ihrer Ausstrahlung zu tun. Obwohl alle sie aus den Augenwinkeln musterten, wirkte sie nicht verlegen. Es schien ihr nichts auszumachen. Ich merkte gar nicht, dass ich sie anstarrte, bis Arons Stimme mich aus meinen Gedanken riss.

„Ähm Nico ... es hat geklingelt. Die anderen sind alle schon nach drinnen gegangen."

„Ich komme schon." Ich schüttelte die Gedanken an die neue Schülerin ab und ging mit Aron in Richtung Klassenzimmer.

„Alles in Ordnung bei dir?", fragte Aron scherzhaft.

„Klar!", sagte ich ungerührt „Was haben wir jetzt?"

„Mathe", sagte Aron und riss mich somit erneut aus meinen Gedanken.

„Wunderbar!", seufzte ich. Aron lachte und lief schneller. Unser Mathelehrer, Herr Müller, der ursprünglich aus Deutschland stammte, war nicht gerade mein Lieblingslehrer. Er war niemands Lieblingslehrer und bekannt dafür, verspätete Schüler stundenweise nachsitzen zu lassen. Ich beeilte mich Aron hinterherzukommen. Gerade als wir an unserem Platz in der Klasse saßen, klingelte es. Da hatten wir noch einmal Glück gehabt, denn bereits 30 Sekunden nach dem Klingeln stand Herr Müller in der Klasse. Er hielt sich nicht lange mit Freundlichkeiten auf, sondern begann unverzüglich mit dem Unterricht. Zehn Minuten später klopfte es an der Tür. Herr Müllers Augen verengten sich bedrohlich. Ich hob meinen Kopf und schaute wie alle anderen gespannt zur Tür. Wer hatte das Pech, schon am ersten Schultag zu spät in Herr Müllers Stunde zu kommen? Die Tür öffnete sich und das neue Mädchen betrat den Klassenraum. Herr Müller fixierte sie mit vor Wut blitzenden Augen.

„Entschuldigung, ich bin neu hier und habe den Klassenraum nicht gefunden", entschuldigte sich das Mädchen mit einer hellen, fröhlichen Stimme. „Ich heiße Amy Thompson und komme aus der USA", stellte sie sich in recht gutem Schwedisch vor. Herr Müllers Augen verengten sich noch etwas mehr. Langsam trat er einen Schritt auf Amy zu. Unaufgefordert sprechen hasste er ebenso wie Zuspätkommen aus tiefstem Herzen.

„Herr Müller? Ich könnte Amy herumführen und ihr alles erklären." Schnell wie eine Kobra wandte sich Herr Müller zu mir.

„Harper, habe ich Sie aufgefordert zu sprechen?" Ich schüttelte den Kopf. „Warum haben Sie dann etwas gesagt?" Ich zuckte mit den Schultern. „Also gut. Da Sie so begierig darauf sind, dürfen Sie unseren Neuzugang ausnahmsweise tatsächlich herumführen." Herr Müller seufzte und wedelte dann mit der Hand in Richtung Tür.

„Gehen Sie schon!" Amy lächelte mich an. Ich erhob mich von meinem Stuhl und lief zu ihr. Wir verließen die Klasse und liefen den Gang hinunter.

„Ich bin übrigens Nico", stellte ich mich ihr zuliebe in Englisch vor. „Hi Nico", sagte Amy mit einem verschmitzten Lächeln und ebenfalls in Englisch. „Rettest du öfter jemanden vor dem Lehrer?" Ich lachte.

„Eigentlich nicht. Du bist eine Ausnahme." Amy grinste. „Ich bin eben etwas Besonderes", sagte sie und zwinkerte mir zu. Ich lachte leise.

„Das kann man so sagen", stimmte ich ihr dann mit einem schiefen Grinsen zu. „Also ... das hier ist die Cafeteria. Dort gegenüber ist ein kleiner Aufenthaltsraum für Freistunden. Aber wenn du arbeiten willst, solltest du lieber in die Bibliothek gehen. Dort ist es wesentlich ruhiger." Ich zeigte ihr die verschiedenen Räume unserer Schule. Als ich meine Kurzführung beendet hatte, war die erste Stunde vorbei. Amy schaute mich an.

„Vielen Dank, Nico." Ich erwiderte ihr Lächeln.

„Jederzeit."

Drei, zwei, eins DRIINNG! Endlich! Wir hatten Mittagspause. Der erste Schultag und ich starb schon jetzt vor Langeweile. Ich saß mit meinen Freunden in der Cafeteria, als Amy durch die Tür trat. Aron stand auf und winkte sie zu uns. Amy kam herüber.

„Hi, ich bin Aron", stellte Aron sich mit einem charmanten Lächeln vor.

„Ähm ... Hi, ich bin Amy", sagte sie zögernd. Sie hatte augenscheinlich erwartet heute allein sitzen zu müssen. Nach der Reihe stellten sich meine Freunde vor.

„Setzt dich doch zu uns", sagte Liz. Amy setzte sich neben mich. Ich lächelte sie an. Ich wusste zwar nicht, was meine Freunde vorhatten, aber in Amys Gegenwart hatte ich einfach den Drang zu lächeln. Die ganze Mittagspause über löcherten Aron und Liz Amy mit Fragen. Ich erfuhr, dass Amy aus Stanfield hergezogen war und nun bei ihrer Tante lebte und dass es ihr hier in Stockholm besser gefiel, als sie zuerst gedacht hatte. Außerdem erzählte sie uns, dass sie Eiskunstlauf machte und gerne zeichnete. Ich hörte ihr die gesamte Mittagspause wie gebannt zu – sie war unglaublich faszinierend. Als es klingelte nahmen die Mädchen Amy in die Mitte und liefen schwatzend in Richtung Klassenraum.

Ich fand mich schneller wieder im gewohnten Leben als Schüler ein als gedacht. Die Lehrer schienen der Meinung zu sein, Hausaufgaben würden Leben retten, so viel gaben sie uns auf. Auch die ersten Tests und Schularbeiten wurden so bald wie möglich angesetzt. Amy war schon am Ende des ersten Monats ein fester Bestandteil unserer Gruppe geworden. In der zweiten Schulwoche hatte sie mich gefragt, ob ich ihr Stockholm etwas zeigen konnte. Von da an trafen wir uns öfters nach der Schule und ich zeigte ihr meine Lieblingsplätze in der Stadt. 

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