Nico

2 1 0
                                    

Ich nahm einen Schluck aus meiner Kaffeetasse und ließ meinen Blick um den Frühstückstisch schweifen. Es tat weh, den leeren Platz von Mum zu sehen und auch Arons Abwesenheit war mehr als deutlich zu spüren. Ich merkte, dass auch die anderen in bedrückter Stimmung waren. Sogar Izzy verspeiste leise ihr Müsli – ohne ihr übliches fröhliches Geplapper. Und ganz plötzlich wurde mir das alles zu viel. Die leeren Plätze. Die überdeutlich spürbare Abwesenheit. Die beklemmende Stimmung. Mein Stuhl schrammte mit einem unmelodischen Quietschen über das Parkett, als ich ihn energisch zurückschob.

„Entschuldigt mich." Meine kontrollierte, gefasste Fassade hielt ich nur noch mit Mühe aufrecht. In meinen Inneren tobte ein Strudel an verschiedensten Gefühlen. Ich verließ das Speisezimmer und stürmte an verblüfften Bediensteten und Wachen vorbei. Ich stieß lautstark Türen auf und stieg Treppen nach oben. Überall begegneten mir verwirrte Blicke. So ein Verhalten sah mir nicht ähnlich. Als ich die Türe zum höchsten Turm des Schlosses aufstieß und in die frische Luft hinaustrat, fühlte sich das an, wie aus dem Wasser aufzutauchen. Tief sog ich die noch kalte Luft ein. Ein Hauch von Frühling lag bereits in der Luft. Aus der Stadt wehte mir der Duft nach frisch gebackenem Brot und das fröhliche Geplauder der Passanten entgegen. Ich schloss die Türe hinter mir und setzte mich auf den kalten Steinboden. Mein Rücken lehnte am Kamin des Turmes. Ich schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Langsam wurde ich wieder ruhig. Während die Zeit verging und ich immer gefasster wurde, dachte ich nach. Über Mum. Über Aron. Über Amy. Mein Vater hatte gestern lange mit mir geredet und mir deutlich gesagt, dass es jetzt an der Zeit war, sich zu entscheiden. Wollte ich weiterhin mit Amy zusammenbleiben und sie zum Engel machen? Den ersten Teil konnte ich definit mit „ja" beantworten, aber den Zweiten ... Es gab eine Zeremonie, die auch öfters im Jahr durchgeführt wurde. Wir waren kein Ausnahmefall. Aber die Zeremonie erforderte einen Engel, eine Art „Erschaffer". Im Normalfall musste diese Rolle der Engel übernehmen, der den Antrag stellte. Das sollte eine Art Hemmschwelle darstellen, damit niemand einen Menschen leichtfertig zum Engel machte. Dieser Engel musste dem Menschen nämlich einen speziellen Dolch ins Herz stoßen. Nur wer durch diesen Dolch starb, wurde als Engel wiedererweckt.

Ich nahm noch einmal meinen ganzen Mut zusammen, dann klopfte ich. Es dauerte nicht lange bevor sich die Türe öffnete. Amy stand im Türrahmen. Sie trug ein helles, pastellfarbenes Sommerkleid; die Haare waren zu einem nachlässigen Knoten hochgebunden.

„Nico." Sie klang überrascht. Wir hatten seit der denkwürdigen Nacht nicht mehr gesprochen. Die Beerdigung. Das Gespräch mit meinem Vater. Ich hoffte, sie nahm mir das nicht übel oder verstand es gar falsch.

„Begleitest du mich auf einen Spaziergang? Ich möchte dir etwas zeigen." Argwohn leuchtete in ihren Augen auf, aber sie trat aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Ich griff nach ihrer Hand und lächelte sie an. Wir schlenderten durch den Palast. Ich schwieg – auf der Suche nach den passenden Worten. Amy beobachtete mich besorgt. Wir erreichten den Zeremonienraum. Amy schaute sich um. Trauer war deutlich auf ihrem Gesicht zu lesen. Hier hatte gerade erst gestern die Beerdigung meiner Mum stattgefunden.

„Warum sind wir hier?", fragte sie. Unsicherheit in ihrer Stimme. Ich nahm sie bei der Hand und führte sie durch den verlassenen Saal. Unsere Schritte hallten laut in auf dem marmornen Fließen wider. Abgesehen von dem Podium in der Mitte war er wie üblich leer. Lichtdurchflutet und strahlend weiß. Der glänzende Boden reflektierte die Sonnenstrahlen, sodass der gesamte Saal zu funkeln schien. Die Luft war geschwängert mit einem intensiven, blumigen Duft, der durch die offenstehenden Fenster aus dem Garten hereindrang. Wir stiegen auf dem Podium und blieben stehen.

„Hier finden auch die Zeremonien statt, die Menschen in Engel verwandeln." Amy schaute mich verwirrt aus ihren smaragdgrünen Augen an.

„Und?"

„Hat dir schon jemand erklärt, wie genau diese Zeremonie abläuft." Verständnis blitzten in ihren Augen auf.

„Ja", antwortete sie schlicht.

„Und du bist dir wirklich sicher, dass du das willst? Du bist dir sicher, dass du mit der ganzen Aufmerksamkeit und der Verantwortung und dem Druck klarkommst?" Amy seufzte.

„Traust du mir das etwa nicht zu? Dass ich das kann?"

„Doch, natürlich. Aber du hast eine Wahl. Du kannst dir aussuchen, ob du dieses Leben führen willst. Und ich möchte nur, dass du dir ganz sicher bist." Amy lachte und schlang mir die Hände um den Hals.

„Bin ich. Du wirst mich jetzt nicht mehr los." Ich legte ihr die Arme um die Taille und zog sie an mich.

„Gut", entgegnete ich leise. „Wenn du dir sicher bist ..." Amy knuffte mich in die Seite.

„Bin ich. Zum hundertsten Mal, du Idiot." Ich lachte.

„Ich liebe dich auch, Ames."

Am nächsten Morgen beim Frühstück war von dieser rosigen Stimmung nichts mehr zu spüren. Die Stimmung war im Keller. Sophie nippte mit leerem Blick an ihrem Tee. Eli zerlegte seinen Toast in kleine Krümel. Amy rührte lustlos in ihrem Joghurt. Ich umklammerte einmal mehr meinen Kaffee mit beiden Händen und versuchte die Gedanken an die nächsten Stunden zu verdrängen. Nach dem Frühstück brachen wir auf. Eine Stunde später saßen wir einer kleinen Kapelle. Der Sarg, der vor dem Altar aufgebaut war, schien unsere Blicke anzuziehen. Amy umklammerte meine Hand so fest, dass es schon wehtat. Ihr liefen genauso wie Sophie stille Tränen übers Gesicht. Eli hatte die Hände im Schoß verschränkt. Die Fingerknöchel weiß vor lauter Anspannung. Seine Lippen waren nurmehr ein schmaler Strich. Mein Blick fiel wieder auf den Sarg und das Atmen wurde plötzlich schwer. Der Pfarrer redete von einer Tragödie, von der Vergänglichkeit des menschlichen Daseins und vom ewigen Leben. Das untröstliche Schluchzen von Arons Mum tat mir in der Seele weh. Seine Familie war ein einziges Wrack. Verquollene, rote Augen. Eingefallene Wangen. Leere Blicke. Ihre Trauer war beinahe mit den Händen greifbar. Als Arons Brüder am Ende des Gottesdienstes aufstanden und eine bewegende Rede hielten, liefen auch Eli und mir Tränen aus den Augen. Eine Trauerfeier im Anschluss gab es nicht und nachdem wir der trauernden Familie unser Beileid ausgesprochen hatten, verließen wir den Friedhof.

Black WingsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt