Amy

2 1 0
                                    

„Himmel, Aron, bitte, bitte schalt endlich wieder um", flehte ich verzweifelt. Wir hatten den Song bereits gefühlte hundert Mal gehört und ich konnte ihn inzwischen auswendig. Aron drehte sich grinsend um.

„Warum?", fragte er unschuldig.

„Weil ich es nicht mehr hören kann", jammerte auch Sophie.

„Wenn ich dieses Lied noch ein einziges Mal höre, laufe ich Amok", murmelte Eli düster.

„Da kann ich mich nur anschließen", stimmte ihm Nico zu. Aron verdrehte die Augen, machte die Musik aber dankenswerterweise aus. Sein „Banausen" ging im kollektiven Seufzer der Erleichterung unter.

„Endlich", sagte Sophie. Aron seufzte nur missmutig.

„In zwanzig Minuten sind wir sowieso da", sagte er. Bei dem Gedanken an das, was uns bevorstand, spannte ich mich unwillkürlich wieder an. Den anderen schien es ähnlich zu gehen. Die ausgelassene, sorglose Stimmung verflog und machte einer tiefen Beklemmung Platz. In nur zwanzig Minuten würden wir Luzifer gegenüberstehen. In nur zwanzig Minuten würden sich unser Schicksal entscheiden.

Aron drehte den Zündschlüssel um und stotternd erstarb der Motor. Es war still.

„Tja ... da wären wir also", sagte Aron und seine Stimme klang, obwohl er leise sprach, unanständig laut. Irgendwann in den letzten zwanzig Minuten musste auch er seinen unerschütterlichen Humor verloren haben. „Das wird lustig", setze er noch nach und grinste. Ich verdrehte die Augen. Oder auch nicht. Sein Humor hielt jeder Herausforderung stand.

„Wird schon schiefgehen", sagte Sophie optimistisch.

„Das glaube ich auch. Allerdings im wortwörtlichen Sinne", murmelte Eli trocken. „Ich vertraue nicht auf unser Glück. Das ist erfahrungsgemäß nur selten auf unserer Seite." Wir stiegen aus dem Auto, das neben einer Zufahrt mitten in der Pampa von Nevada geparkt war. Die Auffahrt verschwand einige Meter weiter hinter einem Hügel, der uns auch den Blick auf Luzifers Versteck versperrte. Ein heißer Wind wirbelte Staubböen auf. Die Luft war trocken und flimmerte vor Hitze. Kein Geräusch war zu vernehmen. Es war, als hielte die ganze Umgebung den Atem an.

„Solltet ihr jetzt nicht eine motivierende Ansprache halten oder so?", fragte Aron an Nico und Eli gewandt.

„Klappe halten", erwiderten die beiden unison. Mein Blick traf Nicos. Ein stummes Versprechen lag in seinen Augen. Ein Versprechen auf eine Zukunft. Ein Versprechen, dass niemand von uns hier sterben würde. Sophie hatte inzwischen den Kofferraum geöffnet und drückte mir ein Bündel Kleidung in die Hand. Ich seufzte. Dann verschwanden wir hinter dem Bus, um uns umzuziehen. Wir wechselten Jeans und T-Shirt gegen eine enganliegende, robuste Hose, ein langärmliges, weißes Unterhemd, darüber ein leichtes Kettenhemd und anschließend ein ledernes Wams. Das kalte Metall an meinem Hals fühlte sich ungewohnt und irgendwie erschreckend an. Sophie half mir die Armschienen anzulegen und einen Schwertgürtel mit Schwert und Dolch umzugürten. Ich kam mir lächerlich vor, als wäre ich ein kleiner Junge, der Krieg spielen würde. Wer trug bitte heutzutage noch Schwerter und Dolche? Oder ein Kettenhemd? Zu guter Letzt schlüpfte ich in hohe Schnürstiefel und flocht mein Haar zu einem schlichten Zopf. Wir kehrten zu den anderen zurück. Dann standen wir da. Stumm. Nico räusperte sich unbehaglich.

„Gehen wir", murmelte er. Wir setzten uns in Bewegung. Langsam und gleichzeitig viel zu schnell. Ich wusste, dass Luzifer nicht das eigentliche Problem war, sonst hätte Gabriel niemals ein paar Jugendliche diesen Auftrag ausführen lassen. Der Stein war das Problem. Der Stein und die Pläne, die die Gefallenen für dessen Zerstörung hatten. Aber Luzifer war gefährlich. Dieser Auftrag war gefährlich. Wir überquerten die Hügelkuppe. Verstecken war sinnlos. Luzifer wusste, dass wir irgendwann kommen würden und eine direkte Konfrontation war unumgänglich. Der unbefestigte Weg endete ein paar Meter weiter vor einer kleinen Blockhütte, die auf drei Seiten durch Hügeln vor ungebetenen Blicken von der Straße aus geschützt war. Der Platz vor der Hütte war verlassen. Nur eine einzelne Person stand dort. Luzifer. Ich erkannte ihn augenblicklich anhand von Nicos Beschreibungen, obwohl er sich in der Zwischenzeit anscheinend wieder schick gemacht hatte. Seine Haare fielen ihm wie schwarzer Lack auf die Schultern, seine Haut leuchtete alabasterweiß und er trug einen feinen schwarzen Anzug. Das überraschendste aber waren seine Flügel; sie strahlten rein und weiß. Genau wie die Flügel von Eli und Sophie. Genau wie die Flügel aller anderen Engel. Kein schmutziges Grau oder Schwarz. Strahlendes, unschuldiges weiß. Es war verstörend. Als wir in sein Blickfeld kamen, verzogen seine Lippen sich zu einem breiten Lächeln. Seine blutroten Augen glitzerten begeistert.

„Meine Freunde", begrüßte er uns mit samtweicher Stimme. „Ich habe mich schon gefragt, wann ihr endlich kommt. Ich nehme an, ihr wollt mich wieder einsperren?" Sein Lächeln verrutschte keinen Millimeter. Er wirkte selbstsicher. Ungerührt.

„Das ist der Plan", antwortete Nico spöttisch. Luzifer seufzte.

„Das hatte ich befürchtet. Wie wäre es stattdessen mit einem Austausch?" Er schaute uns hoffnungsvoll an.

„Lass mich raten ... wir geben dir das Juwel und dafür lässt du uns am Leben?", fragte Eli mit hochgezogener Augenbraue.

„Aber nein! Das wäre mir viel zu ... öde. Ich dachte eher an die Krone Gabriels im Austausch gegen hm ... sagen wir einmal das Leben der Königin?" Nico spannte sich an.

„Ist das eine Drohung?", fragte er leise, aber gefasst. Kein Gefühl drang an die Oberfläche. Sein Gesicht glich einer leeren Maske.

„Natürlich nicht, Eure königliche Hoheit. Es ist ... ein Versprechen. Ich weiß, dass sie krank ist. Ich weiß auch, warum. Und ich weiß, wie man sie heilen kann." Ich wechselte einen kurzen Blick mit Sophie. Damit hatte er Nico. Für seine Mutter würde er alles tun. Er würde ihm alles geben. Alles, was er verlangte und noch mehr, wenn er seine Mutter heilen konnte. Aber ich täuschte mich. Nico zog lediglich spöttisch eine Augenbraue hoch.

„Wenn Ihr wisst, dass sie erkrankt ist, weil sie den Stein berührt hat, dann wisst Ihr auch, dass dies nicht heilbar ist. Kein Engel mit einer Gabe überlebt die Berührung dieses Steins. Also versucht nicht mich mit so etwas zu ködern." Luzifer lächelte schmallippig.

„Immer rational, nicht wahr, Eure Hoheit?" Nico zuckte mit den Schultern. „Ihr wollt also nicht auf mein überaus großzügiges Angebot eingehen?", fragte Luzifer.

„Ich glaube, wir verzichten", sagte Eli süffisant und grinste herablassend.

Black WingsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt