Kapitel 40

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Harry lag auf dem Bauch. Sein Gesicht war in meine Richtung gedreht, seine Augen geschlossen. In regelmäßigen Abständen hob und senkte sich sein Körper. Schon seit einigen Minuten betrachtete ich ihn. Im Schlaf sah er so unglaublich jung aus. Die wüsten Locken umrahmten sein komplett entspanntes Gesicht, die perfekt geformten Lippen waren leicht geöffnet. Alles in mir sehnte sich danach, sie zu berühren. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, bewegte meine Hand sich auf sein Gesicht zu. Kurz vor seinen Lippen hielt ich inne. Vielleicht war das keine so gute Idee. Zu groß war die Wahrscheinlichkeit, dass Harry davon aufwachen würde. Wie ich es bereits von ihm gewöhnt war, schlief Harry auch heute oberkörperfrei. Ohne dass ich es beabsichtigt hatte, wanderte meine Hand zu seinem frei liegenden Rücken. Ganz sanft und vorsichtig fuhr ich mit meinem Zeigefinger seine Wirbelsäule entlang. Dann zog ich ein paar Kreise und zeichnete undefinierbare, unsichtbare Muster. Dabei verlor ich jegliches Gefühl für die Zeit. Es hätten Stunden vergehen können, ich hätte es nicht gemerkt. Bis mein Blick zufällig auf Harrys Gesicht fiel und seine leuchtend grünen Augen traf.

Sofort stoppte ich meine Bewegungen. Wie lange war Harry bereits wach? Er hatte seine Augen wieder geschlossen und lag ruhig atmend neben mir, als sei nichts gewesen. Ganz langsam zog ich meine Hand zurück. „Nein." Für einen Moment war ich mir nicht sicher, ob er tatsächlich etwas gesagt hatte. Doch dann murmelte Harry etwas lauter: „Mach weiter." Seine Augen waren noch immer geschlossen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Die ganze Zeit über war ich davon ausgegangen, dass Harry schlief. Niemals hätte ich gedacht, dass er wach war und trotzdem nichts sagte. Mein Zögern schien ihm durchaus aufzufallen, denn er öffnete seine Augen ein weiteres Mal. „Bitte.", fügte er hinzu und lächelte kurz. Dann schlossen seine Augen sich wieder. Noch immer bewegte ich mich nicht. Erst nach einigen tiefen Atemzüge hatte ich mich wieder soweit beruhigt, dass mein Körper meinen Anweisungen folgen konnte. Im Zeitlupentempo bewegte ich meine Hand zurück zu seinem Rücken. Dabei blieb mein Blick an seinem Gesicht haften. Sobald ich seinen Rücken berührte, formten seine Lippen ein kaum sichtbares Lächeln. Wie in Trance machte ich mit meinen Bewegungen weiter, ohne dabei einen klaren Gedanken fassen zu können. Denn es machte alles einfach keinen Sinn. Harrys Verhalten nachzuvollziehen war ein unmögliches Vorhaben. Allerdings lieferte es die perfekte Möglichkeit, eine meiner immer mehr werdenden Fragen zu stellen. Vielleicht würde er sie in dieser friedlichen Situation tatsächlich beantworten.

„Harry?" Es konnte auch gut sein, dass er schon wieder eingeschlafen war. „Hm?" ... Oder auch nicht. Ich zögerte einen Moment, ehe ich meine Frage stellte. „Warum sagst du den anderen nicht einfach was passiert ist? Kann es dir nicht egal sein, was sie über mich denken?" Obwohl seine Augen geschlossen blieben, veränderte sich etwas in seinem Gesicht. Das Ruhige, Friedliche verschwand. Stattdessen wirkte Harry auf einmal nervös. „Ich mache das nicht für dich." Ich versuchte, den Schmerz zu ignorieren, den dieser Satz hervorrief. „Aber ich habe auch meinen Stolz.", fuhr Harry fort. „Ich weiß genau wie die Jungs reagieren würden, wenn sie erfahren, dass ich schon wieder in eine von Logans Fallen getappt bin. Dass ich schon wieder komplett verarscht wurde. Dass ich schon wieder der naive Idiot war, der ich immer bin." - „Du bist nicht naiv, Harry." Sobald die Worte meinen Mund verlassen hatten, bereute ich sie schon. Doch zu meiner Überraschung blieb Harry ruhig. Für ein paar Minuten schwiegen wir beide. Bis Harry sich plötzlich leise räusperte. „Du hast neulich gesagt, dass du dein Verhalten nicht bereust.", murmelte er. Seine Augen waren mittlerweile nicht mehr geschlossen, aber trotzdem sah er mich nicht direkt an. Ich wusste weder ob er eine Antwort erwartete, noch was ich hätte antworten sollen, also schwieg ich einfach. „Vermutlich solltest du wissen, dass es mir genauso geht." Mein Mund klappte auf und für einen Moment wusste ich nicht, wie ich ihn wieder schließen konnte. So langsam kam mir der Verdacht, dass ich noch immer schlief und all das hier nur ein Traum war. Ein Traum, von dem ich niemals wieder aufwachen wollte. „Nach allem was passiert ist, würde ich trotzdem nochmal alles genauso machen. Obwohl ich jetzt weiß, dass es nicht echt war... Ich bereue es nicht. Und das macht mir verdammte Angst. Denn ich sollte es bereuen. Ich hätte mich niemals auf dich einlassen dürfen. Aber ich würde es immer wieder tun." Während er sprach, wurde seine Stimme immer leiser. Noch immer starrte er mit leerem Blick an mir vorbei. Vorsichtig griff ich nach seiner Hand. Dann legte ich sie an meine Wange. Sofort erfüllte eine angenehme Wärme meinen Körper. „Sag mir, dass sich das nicht echt anfühlt.", forderte ich leise. Harry schwieg, sah mich jedoch endlich an. Es war schwierig, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Langsam löste ich seine Hand von meiner Wange und legte sie stattdessen auf mein Herz, welches deutlich schneller pochte als normalerweise. Harrys Augen bohrten sich weiterhin in meine und ich sah ihm an, dass er es auch fühlte. Er fühlte, wie schnell mein Herz pochte, er fühlte die elektrische Spannung zwischen uns. Wenn das hier wirklich nur ein Traum war, dann neigte er sich seinem Ende. Und die Zeit, die mir noch blieb, musste ich ausnutzen. „Das hier ist echt. Es war immer echt. Und ich glaube, du weißt das auch.", flüsterte ich. Der Hauch von Panik in seinen Augen verriet, dass ich Recht hatte. „Ich liebe dich, Harry." 

So schnell, dass ich es kaum wahrnehmen konnte, hatte Harry mir seine Hand entrissen und war aus dem Bett gesprungen. Mit schnellen Schritten ging er im Zimmer auf und ab, fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und blieb schließlich, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, stehen. Das hier war kein Traum. Und ich war zu weit gegangen. Die Stille war erdrückend. Aber es gab nichts, was ich hätte sagen können. Nach einer gefühlten Ewigkeit stieß Harry sich von der Wand ab, griff nach einem T-Shirt und zog es sich über den Kopf. „Ich brauch frische Luft.", murmelte er und verließ das Zimmer, ohne mich ein einziges Mal anzusehen. 

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