Kapitel 7

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„Wohnst du hier in der Nähe?“, fragte ich, während wir im Dunkeln die Straße entlang gingen. Doch Harry schüttelte den Kopf. „Nein, ich hab momentan kein Zuhause.“ – „Kein Zuhause? Wie meinst du das?“ Am Geld konnte es schließlich nicht liegen, ohne Frage hatte er davon genug.

„Mein Haus wird renoviert. Seit über einem halben Jahr.“ Er verdrehte genervt die Augen, warf mir jedoch ein Lächeln zu. „Ich wohne so lange bei Freunden.“ – „Oh achso… und weißt du schon wann es fertig wird?“ Harry zuckte mit den Schultern und antwortete nicht auf meine Frage. Stattdessen zeigte in eine schmale Seitenstraße. „Da müssen wir rein.“

Für eine Weile gingen wir stumm nebeneinander her. Bis Harry die Stille durchbrach. „Ist dir kalt?“ Für die späte Uhrzeit war es noch ziemlich warm, weshalb ‚nein‘ die zutreffende Antwort wäre. Doch ich wusste, dass eine andere Antwort mich weiter bringen würde.

„Geht schon.“, murmelte ich, ohne ihn anzusehen. Wie ich gehofft hatte, zog er ohne zu zögern seine Jacke aus. Sobald er sie mir um die Schultern legte, lächelte ich ihn dankbar an. Die Ärmel waren um einiges zu lang, aber das störte mich nicht. Und ich musste zugeben, dass sie äußert angenehm roch. Schnell verdrängte ich diesen Gedanken wieder. So durfte ich gar nicht erst anfangen.

Wenige Minuten später betrat Harry ein Gebäude, welches offenbar noch in der Bauphase war. Der Eingang war nur mit einigen roten Bändern abgesperrt, die Harry nun jedoch so auseinander hielt, dass ich ebenfalls hindurch gehen konnte. Etwas zögerlich blieb ich draußen stehen.

„Ist das erlaubt?“, fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen, woraufhin Harry grinsend die Augen verdrehte. „Wenn es erlaubt wäre, dann wäre es nicht abgesperrt.“ – „Was wenn uns jemand sieht?“ – „Ich war hier schon oft und mich hat noch nie jemand gesehen. Also komm jetzt.“

Auch von innen befand sich das Haus noch komplett im Rohbau. Überall lag Müll herum, aus den Wänden ragten Kabel und die zukünftigen Fenster waren abgeklebt. All das konnte ich nur sehen, weil Harry mit seinem Handy Licht spendete. Ansonsten war es komplett dunkel. „Was wird hier gebaut?“, fragte ich leise. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Bedürfnis zu flüstern. Doch auch Harry sprach nicht viel lauter. „Ursprünglich ein Bürogebäude. Aber seit ein paar Monaten tut sich hier überhaupt nichts mehr.“

Eine verlassene Baustelle, mitten in der Nacht. So hatte ich mir ein Date mit Harry Styles ganz bestimmt nicht vorgestellt. Zu meiner Überraschung griff er im nächsten Moment nach meiner Hand und führte mich die Treppe hoch. Bereits im ersten Stockwerk traute ich mich nicht mehr, nach unten zu gucken. Am liebsten hätte ich meine Augen komplett geschlossen, doch dann wäre ich vermutlich über meine eigenen Füße gestolpert.

Höhenangst war alles andere als angenehm.

Dennoch folgte ich Harry weiter nach oben. Die Treppe schien überhaupt kein Ende zu nehmen und irgendwann hörte ich auf, die Etagen zu zählen.

„Da wären wir.“, sagte Harry schließlich. Wenige Sekunden später spürte ich frische Luft. Hier war es schon heller als im Haus, was vor allem an den vielen Lichtern der Stadt lag, die buchstäblich unter uns lag.

Wir befanden uns auf dem Dach des Gebäudes. Kein Geländer, kein Schutz, nur der Abgrund.

Harry ließ meine Hand los und trat näher an den Rand des Gebäudes. Mein Herz pochte in hohem Tempo gegen meinen Brustkörper. Sobald er sich zu mir umdrehte, setzte ich ein Lächeln auf. Genau jetzt kam es darauf an, meine Schauspielkünste einzusetzen.

„Alles okay?“

Ich nickte und hoffte, dass mein Lächeln nicht allzu erzwungen wirkte. Dann ging ich langsam in seine Richtung, Schritt für Schritt. Er hatte sich mittlerweile wieder umgedrehte und blickte auf die Stadt hinunter. Ich blieb schräg hinter ihm stehen, sodass ich nicht direkt am Abgrund stand. Von weitem konnte ich das London Eye sehen, welches auch zu dieser späten Stunde noch seine Runden drehte.

„Netter Ausblick oder?“, fragte Harry und setzte sich zu meinem Erschrecken auf den Boden, nur etwa einen Meter vom Abgrund entfernt. Ganz vorsichtig setzte ich mich neben ihn. Im Sitzen war es schon erträglicher, immerhin konnte ich so nicht fallen.

Ich versuchte mich auf Harrys gleichmäßige Atemzüge zu konzentrieren. Und das half tatsächlich. Langsam beruhigte sich mein Herzschlag und es gelang mir, tatsächlich die atemberaubende Aussicht zu genießen.

„Wenn du sagst, dass du öfter hier bist… heißt das, dass du öfter Mädchen mit hier her nimmst?“, fragte ich nach etwa zehn Minuten angenehmer Stille. Es dauerte eine Weile bis er antwortete.

„Nein. Ursprünglich hat Zayn diesen Platz entdeckt. Seitdem kommen wir fünf gerne hierher, wenn wir mal unsere Ruhe haben wollen. Es ist ganz nett diese Stadt, in der wir keinen Schritt unbeobachtet gehen können, manchmal selbst von oben zu beobachten. Aber normalerweise komm ich alleine her. Ohne Mädchen.“

Aus irgendeinem Grund machte mich das glücklich. Wieder einmal musste ich mich daran erinnern, dass das alles nur ein Schauspiel war.

„Bis jetzt.“, stellte ich fest. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er nickte. „Bis jetzt.“

Mir war durchaus bewusst, was ich mit dieser Information alles anfangen konnte. Im Prinzip hatte ich die Möglichkeit, jedem von diesem ‚Geheimversteck‘ zu erzählen. Es würde mir vermutlich sogar etwas Extrageld bringen.

Doch Harry schien mir zu vertrauen. Und dieses Vertrauen schenkte er, laut Logan Shepard, nicht sonderlich vielen Leuten. Ich war mir sogar ziemlich sicher, dass dieser selbst, inklusive dem gesamten Managementteam, nichts von diesem Ort wusste. Ganz bestimmt würde er nicht erlauben, dass die fünf Jungs sich derart in Lebensgefahr brachten.

Denn das war dieses Dach: lebensgefährlich.

Erneut beschleunigte sich mein Herzschlag. Nur ein falscher Schritt und mein Leben wäre für immer zu Ende.

Schnell konzentrierte ich mich wieder auf Harrys Atemzüge. Schon viel besser.  

„Leg dich auf den Rücken.“, sagte Harry auf einmal. Ich beschloss, genau das zu tun. So konnte ich wenigstens den Abgrund nicht mehr sehen. Auch Harry legte sich hin, sodass wir nun Seite an Seite in den Himmel starrten.

Zuerst war alles komplett schwarz. Dann jedoch wurde ein Stern nach dem anderen sichtbar. Es war eine klare Nacht, sodass der Himmel makellos wirkte. Sofort erkannte ich einige Sternenbilder, die ich bis jetzt nur in Büchern gesehen hatte.

„Das klingt vermutlich seltsam, aber manchen von diesen Sternen habe ich Namen gegeben.“, murmelte Harry leise. „Ab und zu… liege ich einfach hier und rede mit ihnen. Es tut gut, einfach mal all seine Gedanken los zu werden. In der Welt, in der ich lebe, gibt es kaum jemanden, vor dem ich das tun kann. Jedes meiner Worte wird sofort auf die Goldwaage gelegt, alles gelangt irgendwie an die Öffentlichkeit.“ Harry seufzte und gab dann ein nervöses Lachen von sich. „Ich weiß nicht warum ich dir das erzähle. Wahrscheinlich denkst du jetzt, dass ich komplett gestört bin.“

Doch ich schüttelte den Kopf. Bis mir einfiel, dass er das nicht sehen konnte. „Ich verstehe was du meinst. Nach unserer zweiten Begegnung habe ich… ein bisschen recherchiert. Ich war neugierig und wollte mehr über dich wissen. Das meiste was ich gelesen habe, war alles andere als nett. Wie du schon gesagt hast… alles was du sagst, wird auf die Goldwaage gelegt. Und dann wird es so lange bearbeitet, bis etwas Negatives dabei rauskommt. Ich an deiner Stelle hätte vermutlich längst aufgehört, mit überhaupt irgendjemandem zu reden.“

Dass ich nach Artikeln über ihn gesucht hatte, konnte ich ihm ruhig erzählen. Den wahren Grund behielt ich jedoch für mich.

„Du warst also neugierig und wolltest mehr über mich wissen?“, fragte er und obwohl ich sein Gesicht nicht sah, hörte ich das Lächeln in seiner Stimme. Ich verdrehte die Augen und antwortete nicht. Allerdings konnte auch ich mir ein Lächeln nicht verkneifen.

Kurz darauf seufzte Harry erneut. „Frag mich nicht wieso, aber ich habe einfach das Gefühl, dass ich dir vertrauen kann. Und ich hoffe, dass ich damit keinen schwerwiegenden Fehler begehe.“

In diesem Moment war ich froh, dass er mein Gesicht nicht sehen konnte.

Ich wollte ihm sagen, dass er in der Tat einen Fehler machte, dass er mir nicht vertrauen konnte. Doch ich brachte kein Wort heraus. 

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