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Sie ließ ihren Blick über sie schweifen. Über die blonden Haare, die wie immer locker auf ihren Schultern auflagen. Über die geschwungenen Wimpern, ihre Lippen, die sich zu einem Lächeln  formten und unweigerlich auch Sahra dazu zwangen, dass sich ihre Mundwinkel nach oben zogen. Sie war noch immer so verdammt schön.  Wehmütig wandte sie ihren Blick ab und schaute stattdessen auf das Glas Sekt in ihrer Hand, das sie schnell in einem Zug leerte.

Was hatte sich Sahra nur dabei gedacht zu diesem Empfang zuzusagen? Sie hätte wissen müssen, dass Linda auch hier sein würde. Schließlich ging es hier bei diesem Empfang um die Eröffnung eines neuen Museums zur Aufarbeitung der DDR, ein Thema, für das die Blondine brannte. 

Sie hätte einfach Heidi bitten können sie hier zu vertreten. Dann wäre das ganze so viel einfacher gewesen. Dann hätte sie den Abend entspannt in ihrer Wohnung verbracht und würde nicht hier so armselig stehen und ihre Ex anstatten.

Aber vielleicht hatte sie genau deswegen den Termin nicht an jemand anderen abgetreten. Weil sie unterbewusst jede Möglichkeit nutzen wollte, Linda zu sehen. Doch das bereute sie jetzt, denn jedes Mal, wenn sie Linda ansah, zog sich ihr Herz schmerzvoll zusammen.

Um diesem beklemmenden Gefühl in ihrer Brust irgendwie zu entkommen, sah sie sich um und fing ein belangloses Gespräch mit einem SPD-Vertreter an, auf das sie sich aber gar nicht richtig konzentrierte. Wenigstens funktionierte es halbwegs als gute Ablenkung. Er redete schon die ganze Zeit darüber was für einen tollen Job Scholz als Kanzler machen würde, doch Sahra verkniff sich ihren Kommentar dazu und schielte immer wieder auf ihre Armbanduhr um zu checken, wie lange sie es noch hier aushalten musste.

"Selbst die FDP muss zugeben, dass Ola- ich meine der Kanzler einfach makellos ist." schwafelte der langweilige SPD Typ vor sich hin und Sahra konnte sich in letzter Sekunde noch ein lautes Auflachen verkneifen. Denn in ihrem Kopf formten sich automatisch Bilder davon, wie Linda auf diese Aussage reagieren würde. Was sie sagen würde.

So ging es Sahra seit Wochen. Jedes Wort, jede Bewegung, alles erinnerte sie an Linda. Sie dachte es würde besser werden, doch je mehr Zeit nach ihrer Trennung verstrich, desto mehr vermisste Sahra sie. 

Doch hatte sie überhaupt das Recht ihrer Beziehung nachzutrauern, schließlich war sie es gewesen, die es beendet hatte. Damals erschien es ihr richtig und trotzdem hatte sich eine Entscheidung noch nie so falsch angefühlt. Dabei wollte sie doch nur das beste für Linda. Sie wollte nicht, dass Lindas Karriere wegen ihr in Mitleidenschaft gezogen wurde. Sie wollte, dass sie alles erreichte, was sie sich vorgenommen hatte.

Einen Moment dachte sie daran, wie es wäre, wenn sie auf Linda gehört hätte. Wenn sie ihr geglaubt hätte, dass Sahra wichtiger für sie war als ein hoher Parteipolitischer Posten. Dass sie ihn sowieso nicht wolle, wenn das hieße, dass sie ihr Privatleben auf ewig verstecken müsse. Dass sie der Welt zeigen wollte, dass sie Sahra aus ganzem Herzen liebte.

Dann hätte sie Linda jetzt den ganzen Abend stolz angeblickt und es wäre ihr egal gewesen ob jemand es mitbekommen würde. Sie hätte bei Gelegenheit neben Linda gestanden und ihr den Arm um die Taille gelegt. Sie hätten sich gegen Ende der Veranstaltung gemeinsam verabschiedet und wären Hand in Hand nach Hause gegangen.

Aber es hatte keinen Sinn und Zweck. Sie konnte es nicht ungeschehen machen und wenn sie Linda so ansah, schien es dieser gerade sowieso prächtig zu gehen. Sie strahlte wie immer freundliche Professionalität aus. Alles so wie immer, als hätte es die Beziehung mit Sahra und deren Ende nie gegeben.

Was sie nicht bemerkte war, dass Lindas Blick ebenfalls immer wieder unauffällig auf Sahra ruhte.

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Zwei Stunden später war Sahra auf dem Weg nach Hause. Es war ein warmer Sommerabend und ein lauer Wind wehte in Sahras nun geöffneten Haaren, während sie unter der Beleuchtung der Straßenlaternen nach Hause spazierte. Sie musste einfach den Kopf freibekommen nach diesem langen Tag.

Wagenberg OneshotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt