Wo bin ich? Teil 1

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So, irgendwie bin ich in Schreiblaune und deswegen gibt's jetzt noch einen Oneshot von mir. Wahrscheinlich wird es zwei oder drei Teile geben. Mal schauen, aber jetzt viel Spaß. :)

Erlaubnistatbestandsirrtum. Er-laub-nis-tat-be-stands-irrtum. 7 Silben, 26 Buchstaben. Doch egal wie sehr sie das Monstrum an Wort auf dem Papier anstarrte, kam es ihr nicht weniger kompliziert vor.

"Ich werde das nie verstehen!" Seufzte Linda und ließ ihren Kopf auf die Tischplatte sinken. Sie schielte auf die Armbanduhr an ihrem Handgelenk. 19.45 Uhr. In 15 Minuten musste sie beim Juli Stammtisch sein. Dabei hatte sie heute erst 5 Stunden gelernt.

Mit einem Knall schlug sie das Lehrbuch zu, schälte sich aus ihrem Gammel-Lernpulli und streifte sich ein weißes Polo Ralph Lauren Hemd über. Sie achtete stets darauf, dass ihre Klamotten bei solchen Anlässen nicht aussahen wie aus der sozialistischen Mottenkiste.

Als letztes schnappte sie sich noch ihr gelbes Notizbuch und die Fahrradschlüssel. Dabei fiel ihr Blick auf den eingestaubten pinken Fahrradhelm in der Ecke ihres Zimmers. Theoretisch sollte sie ihn natürlich tragen und hatte sich das auch schon 100 mal vorgenommen, auch weil ihre Freundin Annalena ihr das immer wieder vorbetete, aber praktisch würde es ihre Frisur zerstören, weshalb sie sich umdrehte und die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ.

Mit dem Rad waren es von ihrer Wohnung in Babelsberg nur knappe 20 Minuten bis zum Treffpunkt der Julis. Wie immer traf sich die Gruppe Freitags Abends um ihre liberale Perspektive auf die Welt zu diskutieren...und sich über die SPD und die Jusos, mein Gott die waren echt eine Plage, lustig zu machen.

Linda ließ den Fahrtwind durch ihre Haare wehen und genoss das Gefühl der kalten Luft in ihren Lungen. Es war Ende Oktober und damit schon fast zu kalt zum Fahrrad fahren, aber Linda wollte es sich nicht nehmen lassen die letzten paar Tage noch auszunutzen.

Auf ihrem Weg in die Innenstadt kam sie an einem grünen Wahlplakat vorbei und musste, trotz der gegnerischen Partei, unwillkürlich lächeln. Denn mit der knallgelben Sonnenblume und dem dunkelgrünen Hintergrund verband die Studentin hauptsächlich eines. Ihre wunderschöne Annalena.

Die beiden hatten sich letztes Jahr an der Uni kennengelernt. Beide junge Erstsemester, die noch niemanden richtig kannten und deswegen alleine und ziemlich verloren in der Mensa herumgesessen hatten, bis Annalena all ihren Mut zusammengefasst hatte und sie angesprochen hatte.

Annalena vertrat zwar durchaus andere politische Positionen als Linda, aber sie fanden beide, dass das ihre Beziehung mehr bereicherte als sie belastete. Und wie Linda stehts zu sagen pflegte: "Liebe ist überparteilich."

Selbst jetzt nach einem Jahr Beziehung merkte Linda wie es in ihrem Bauch flatterte, wenn sie an Annalena dachte. An ihr Lächeln, ihre weiche Haut und das Gefühl wie sich Lindas Arm anhob um sich an sie heranzukuscheln. Sie liebte sie. Und so würde es auch bleiben.

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"Ach komm schon Linda, sei doch nicht so eine Spießerin. Das könnte doch auch einfach voll das gute Teambuilding sein."

"Ich hab aber noch eine Verabredung, ich treff mich gleich mit meiner Freundin." antwortete Linda und blickte auf die Uhr. Nur noch 15 Minuten. Wenn sie pünktlich bei Annalena sein wollte, müsste sie jetzt losfahren.

"Kannst du das denn nicht einmal absagen? Du bist nie bei so gemeinsamen Aktionen dabei. Was willst du überhaupt mit der? Ist die nicht bei den Grünen. Ich kann echt nicht verstehen was du an der findest, aber vielleicht ist das auch so komischer Lesbengeschmack." schnaufte Julius verächtlich.

Lindas Puls hatte sich innerhalb der letzten 10 Sekunden verdoppelt. "Sag mal was fällt-" doch sie wurde unterbrochen: "Hör mir mal zu Linda, du willst doch Mitglied im Vorstand werden oder? Dann würd ich an deiner Stelle mal zusehen, dass du deinen süßen Hintern heute auch mal mit in die Bar bewegst, sonst könnte das schwierig mit dem Posten werden. Ich hab mehr Einfluss hier als du denkst, also spiel hier nicht die Eisprinzessin sondern beteilige dich mal.

Er warf ihr noch einen letzten prüfenden Blick zu, dann verschwand er durch die Tür. Linda japste nach Luft. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie während Julius Monolog vergessen hatte zu atmen. Was bildete der sich eigentlich ein dieser Testosteron vollgepumpte Blödmann.

Doch was ist wenn er Recht hatte. Linda wusste, dass er viele Freunde hier im Kreisverband hatte, aber hatte er wirklich auch die Macht eine Wahl zu ihren Ungunsten ausfallen zu lassen?

Und in einem Punkt musste sie ihm widerwillig zustimmen. Während die anderen immer noch zusammen weggingen, Spaß hatten und sich vernetzten, blieb sie dem ganzen fern. Gar nicht unbedingt wegen Annalena, manchmal auch wegen der Uni oder weil sie einfach keine Lust hatte.

Aber sollte sie vielleicht heute einmal eine Ausnahme machen? Wollte sie das Risiko wirklich eingehen? Immerhin arbeitete sie seit Monaten daran in den Vorstand zu kommen.

Sie war bei jeder Veranstaltung anwesend, war mit Abstand die fleißigste Wahlhelferin in diesem Wahlkampf, schrieb pausenlos Anträge und organisierte Aktionen wo sie nur konnte.

Warum reichte das als Frau eigentlich nicht aus? Warum konnten Julius, Friedrich und die anderen Typen aus dem Kreisvorstand eigentlich gewählt werden, obwohl Rolex tragen und andere Parteien niederschmettern ihre einzigen Qualitätsmerkmale zu sein schienen.

Was war ihr das ganze Wert?

Schließlich zog sie ihr kleines Nokia aus der Tasche und tippte auf der Tastatur eine Nachricht an Annalena ein. "Ich kann leider doch nicht kommen :/. Sehen wir uns morgen?"

Ihr Herz zog sich während sie tippte zusammen und sie konnte schon die vorwurfsvolle Stimme in ihrem Kopf hören, die ihr sagte, dass sie hier gerade einen Fehler machte. Eine Sekunde lang schaute sie noch auf den pixeligen Text vor ihr, dann drückte sie auf senden und ließ ihr Handy in ihre Tasche gleiten.

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Der Raum um Linda drehte sich. Das bunte Licht um sie herum verschwamm immer mehr zu einem schummrigen Flimmern. Sie wusste selbst nicht ganz wie spät es war, geschweige denn wie viel Alkohol sie getrunken hatte. Eigentlich hatte sie doch nur kurz mitgehen und sich ein Radler bestellen wollen. Doch aus einem Radler, waren plötzlich zwei geworden und 3 shot Runden später stand sie auf der Tanzfläche und bewegte ihren Körper relativ unrythmisch zu Silly.

Wo die anderen Julis waren, war ihr schleierhaft. Sie konnte sich noch dunkel daran erinnern, dass Julius sie zu einem weitere Shot überredet hatte und dann mit einer jungen Frau bei den Toiletten verschwunden war.

Sie schloss die Augen, genoss die Musik und merkte gar nicht wie sich ihr eine dunkelhaarige Frau näherte, die ihr 'ausversehen' über den Arm strich. Linda öffnete die Augen und sah die Frau, die nun direkt vor ihr stand und sie vielsagend anlächelte an. Sie war etwas älter als sie selbst, aber Lindas Einschätzung nach zu Urteilen immer noch Studentin.

"Du siehst  sehr hübsch so wie du da tanzt" sagte die ältere und blickte ihr direkt in die Augen.

"Danke." murmelte Linda und tanzte einfach weiter. Im nüchternen Zustand wäre ihr das alles sehr suspekt vorgekommen, sie hätte sich umgedreht und wäre gegangen. Aber das hier war nicht nicht die nüchterne Linda, die hatte sie für die nächsten paar Stunden an der Bar abgegeben und so dachte sie sich einfach 'Hey vielleicht werden wir ja Freunde' und so merkte sie auch nicht, dass sich die Unbekannte immer näher an sie heranbewegte.

So lange bis sie plötzlich eine Hand an ihrer Wange spürte und ehe sie realisieren konnte, was gerade passierte, hatt die andere Frau auch schon ihre Lippen auf Lindas gepresst. Eine Sekunde, wie aus Reflex erwiderte sie den Kuss. Doch als sie realisierte was sie da gerade tat löste sie sich schlagartig von ihr und sah die ältere verständnislos an.

"Ich...ich hab eine Freundin." stammelte sie, dann verließ sie fluchtartig die Tanzfläche und stürmte zum Ausgang. Sie war schon kurz davor die Tür öffnen, als sie eine kleine dunkelhaarige Frau daneben erblickte.

Annalena. Sie sah Linda an und in ihrem Blick lag so viel Schmerz und Verständnislosigkeit, dass es Linda das Herz brach.

"Annalena, ich-" stammelte sie.

"Wie konntest du nur?" fragte Annalena mit brüchiger Stimme. Sie warte Lindas Antwort gar nicht ab, sondern machte auf dem Absatz kehrt und ließ Linda zurück.

Ihr lief eine Träne über die Wange.

Fuck. Was hab ich getan? Ich wünschte ich könnte das alles ungeschehen machen und die Zeit zurückdrehen.

Das war das letzte, was Linda dachte, dann blieb die Zeit stehen.

Wagenberg OneshotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt