Kapitel 1

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Das dunkelhaarige Mädchen stand zitternd vor dem großen blonden Jungen. Seine Kiefer fest aufeinandergepresst atmete er einige Male tief ein. Entschlossenheit lag in seinem Blick, der starr auf sie gerichtet war. Sie war vorgewarnt, hatte es seit langem erwartet. Ohne Wolf war sie ein Niemand für ihr Rudel. Dennoch hatte die Mondgöttin ihr ausgerechnet den Sohn des Betas als Gefährten an ihre Seite gestellt. Ein grausamer Scherz, für den sie nun büßen würde, und nicht nur sie.

„Ich, Sean Parker, Sohn des Betas des Dark-Woods-Rudels, lehne dich, Cassandra Hall, als meine Gefährtin ab." Da waren sie. Die Worte, vor denen sie sich seit Monaten fürchtete. Seitdem der Blonde ihr gestanden hatte, dass er ihr Mate war. Doch eine Verbindung zwischen ihnen durfte nicht zustande kommen. Sie schloss für einen Moment die Lider, suchte nach dem eifrig einstudierten Satz. Eiserne Ketten schlangen sich um ihr Herz, drohten, es zu zerquetschen. Sie schüttelte bedächtig den Kopf. Es war an der Zeit, der Realität ins Auge zu sehen.

„Ich, Cassandra Hall, Tochter des Alphas des Dark-Woods-Rudels, lehne dich, Sean Parker, als meinen Gefährten ab." Sämtliche Anspannung fiel von ihr ab. Der Fluch war gebrochen. Sean schrie laut auf, der Schmerz trieb ihn fast in die Knie. Er schwankte einen Moment. Schweißperlen rannen von seiner Stirn, tropften von seinem Kinn auf sein enganliegendes weißes Shirt, unter dem sich die Muskeln spannten. Sein Wolf litt, nicht begreifend, was geschehen war. Ohne Wölfin verspürte sie nur ein leichtes Unwohlsein. Es verscheuchte das angenehme Kribbeln, das sie in seiner Gegenwart seit ihrem achtzehnten Geburtstag vor einer Woche genossen und gleichzeitig gefürchtet hatte. Sie trat auf ihren ehemaligen Gefährten zu, berührte ihn sachte an der Schulter.

„Es ist besser so", flüsterte sie, nur für seine Ohren bestimmt. Sie sah die Zweifel, den Schmerz in seinem Gesicht. Ihn so leiden zu sehen, versetzte ihr einen Stich ins Herz. Ihr bester Freund seit Kindertagen. Derjenige, der ihr immer beigestanden, sie in allem unterstützt hatte.

„Ich weiß, und doch wünschte ich, sie hätten mich nicht dazu gezwungen", erwiderte er genauso leise. Eine einzelne Träne stahl sich aus seinem Auge. Ein letztes Mal atmete sie seinen betörenden Geruch nach Trüffeln, nach Wald ein, dann drehte sie sich um und schritt die Stufen ihres Elternhauses hinab. Der Wagen ihres Vaters stand bereit. Bereit, sie vom Gelände des Rudels zu entfernen. Ihr Leben würde fern der geliebten Personen weitergehen. Doch nicht zu fern.

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„Erde an Cassie." Jemand fuchtelte vor Cassandras Gesicht herum. Sie zuckte zurück, aus Angst, einen Finger ins Auge zu bekommen. Eine nicht zu unterschätzende Gefahr, wenn sie bedachte, wer vor ihr stand.

„Hallo Rey. Was gibt es, dass du wie eine wilde Furie meine Mittagspause störst?" Sie wandte den Blick von der Rothaarigen, die sich mit einem Seufzer vor ihr ins Gras fallen ließ, ab und drehte ihre Brotdose in den Händen. Die Erinnerung hatte ihr den Appetit verdorben. Eine Seltenheit - aß sie doch wie Wölfe gern und viel. Ein Glück nur, dass sie über einen ausgeprägten Metabolismus verfügte, der sie schlank hielt. Dazu verbrachte sie viel Zeit im Niemandsland, dem Streifen neutralem Boden zwischen den Wolfsterritorien. Lange Läufe, über Stock und Stein. Einmal war sie fast auf das Gebiet der Feinde ihrer Familie gelaufen, doch ein großer hellbrauner Wolf hatte sie leise angeknurrt. Eine Warnung, ohne allzu viel Nachdruck. Eher wie man einen tollpatschigen Welpen zur Ordnung rief. Sie war stehengeblieben, hatte eine Verbindung zu dem Wandler wahrgenommen. Ein Gefühl, als ob er sie vor jeglicher Bedrohung schützte. Wie ein Gamma seine Luna. Dabei würde sie nie die Gefährtin eines Alphas sein. Womöglich hatte er nur so nachsichtig reagiert, weil sie ein Mensch war, und von ihr keine nennenswerte Gefahr ausging.

„Cassie! Aufwachen! Hast du schon gehört? Das Dark-Woods-Rudel bekommt jetzt auch in der Stadt Konkurrenz." Rey hielt inne, sah sich um, als ob sie Zuhörer fürchtete. Alles nur eine Show der Freundin, die Aufmerksamkeit zum Leben benötigte wie andere Luft und Nahrung. Erwartungsvoll sah sie Cassandra an, wippte im Sitzen aufgeregt vor und zurück. Wie ein Gummiband, das man zu sehr spannte.

Die verschmähte MateWo Geschichten leben. Entdecke jetzt