Hör auf zu weinen liebes

1.3K 43 18
                                    

Die Stimme am Telefon war tief und rau. Fast wie Schleifpapier. Unter anderen Umständen hätte man sie sogar attraktiv nennen, doch in diesem Moment sorgte jeder Wort für eine kalte, unangenehme Gänsehaut auf ihrem gesamten Körper. Er war da. Wer auch immer das war, er beobachtete sie. Doch von wo? Panisch sah sich Keira um. Immer wieder drehte sie sich um die eigene Achse, wobei sie mehrmals mit der Hüfte gegen den Tresen knallte. Das einzig logische war das Fenster, also drehte sie sich hektisch zu den zwei Fenstern. Diese waren mit dunklem Holz umrandet. Das Glass  war immer sauber, da Keira einen kleinen Ordnungstick hatte.

Genau deswegen konnte sie nämlich perfekt sehen was vor ihrem Fenster war: nichts. Außer dem blauen, etwas bewölkten Himmel und den grünen Bäumen war rein gar nichts zu sehen. Warum? //Er muss doch dort sein! Aber was wenn-// Ihre Gedanken wurden von der Stimme erneut unterbrochen.

"Genug umgesehen? Du wirst mich nicht finden Keira." sagte die Stimme fast schon... amüsiert? //Fand er das gerade wirklich lustig?// dachte sie aufgebracht. Mit einem Schlag war die Panik verschwunden und die Wut kroch langsam in ihr hoch. Erst tat er so als würde er sie beobachten und jetzt fand der das ganze auch noch lustig? Keira nahm also all ihren Mut zusammen und holte tief Luft. "Jetzt hören sie mal zu, sie perverses Arschloch. Hören sie auf mit ihren beschissenen Spielchen und lassen sie mich in Ruhe, sonst rufe ich die Polizei!" mit jedem Satz wurde sie lauter und erboster. Sie war nie der Typ gewesen, der einfach zitternd da stand, sondern sie wurde wütend und geigte der Person die Meinung.

In diesem Fall brachte sie das aber nicht im geringsten weiter, denn die Stimme am Telefon redete einfach gelassen weiter. Er ging nicht mal darauf ein, was Keira sagte, stattdessen sagte er etwas, dass sie nicht im geringsten erwartet hatte."Ich habe Sebastian entführt". Mit nur einem einzigen Satz, stellte er ihre ganze Welt auf den Kopf. Immer wieder hallten diese Worte in ihrem Kopf wieder. Er hatte ihn entführt...? Keiras Augen weiteten sich und wieder war da diese unfassbare Panik. Ihr Herzschlag beschleunigte sich um das doppelte und hunderte Szenarien rasten durch ihren Kopf. Sebastian in einem dunklen Raum, wie man ihm weh tat, ihn hungern ließ oder noch schlimmere Dinge.. Das war doch alles nur ein Witz... oder? Das konnte einfach nicht echt sein...

"S-sie lügen... h-hören sie auf mich zu... zu verarschen" stotterte sie und ihre Stimme brach. Verzweifelt versuchte sie sich einzureden, dass das alles nicht stimmen konnte. Warum sollte denn jemand ihren Bruder entführen? Sie hatten doch niemandem was getan, geschweige denn, dass sie viel Geld hatten. Zwei ganz normale Studenten... Warum also würde jemand ihren Bruder entführen? Sie konnte es nicht verhindern aber langsam traten ihr die Tränen in die Augen. Eine schreckliche Angst machte sich in ihrem inneren breit und sie begann wieder zu zittern. Dabei lief ihr bereits die erste Träne über die rosige Wange. //Verdammt..//

"Ich lüge nicht und jetzt hör auf zu weinen liebes. Deinem Bruder wird nichts passieren. Dafür musst du allerdings etwas tun. In zwei Tagen bekommst du einen Beweis, dass er noch lebt und einen Tag später bekommst du deine Anweisungen. Nicht schwer oder?" erklärte der Entführer ihr als wäre sie ein kleines Kind das sich ein Eis kaufen gehen soll. //Verdammter Mistkerl// dachte sie. Warum sie? Warum ihr Bruder? Sie sollte etwas für ihn tun? Aber was? So viele Fragen schwirrten in ihrem Kopf herum und sie wusste auf keine dieser Fragen eine Antwort.

Dann hörte sie das klicken des Telefons. Er hatte aufgelegt. "H-hallo? Sir? Sir, sind sie noch da?" fragte sie und ihre Stimme zitterte. "Bitte... nicht auflegen" flehte sie in das bereits verstummte Telefon. Eine neue Welle von Tränen rollte ihre rosigen Wangen hinunter. "Sebastian... bitte, ich brauch dich doch..." flüsterte sie in den Hörer und brach auf dem Küchenboden zusammen. Sie sank auf die Knie und lehnte sich gegen die Küchenregale. Diese knarrten kurz, doch hielten ihrem sportlichen Körper stand. Sie klammerte sich verzweifelt an das Telefon und flehte immer wieder darum, dass der Entführer ihr antworten sollte. Warum nur ihr Bruder? Warum nicht sie...

Das ging noch einige Minuten so weiter, bis Keira sich langsam entschloss, aufzustehen. Es kostete sie Kraft überhaupt auf die Beine zu kommen, da diese sich wie wackelpudding anfühlten. Als hätte man ihr den Boden unter den Füßen weggerissen. Es war ein schreckliches Gefühl und sie wusste nicht, wie sie mit der ganzen Situation umgehen sollte. Ihr Bruder wurde irgendwo gefangen gehalten, ein stalker beobachtete sie nun und bald würde sie Forderungen erfüllen müssen. Kein normaler Mensch konnte sowas einfach wegstecken.

Die junge Frau versuchte dieses stechende Gefühl in ihrer Magengegend einfach zu verdrängen, doch es ging nicht. Es brannte und fühlte sich zugleich Eiskalt an. Jeder neue Gedanke versetzte ihr einen neuen Stich, welcher ihr Herz erneut zum bluten brachte. Wenn man von solchen Entführungen las, dachte man sich immer "das geht doch immer gut aus" oder "so schlimm konnte das nicht sein" doch genau das war es. Von den tausend Gedanken in Keiras Kopf, drehte sich nicht ein einziger darum, dass er einfach gesund nach Hause kommen könnte.

Kraftlos schleppte sie sich ins Wohnzimmer. Was sollte sie nun tun? Sie konnte weder die Polizei rufen, noch jemanden informieren. Eigentlich wäre ihr erster Reflex gewesen, zur Polizei zu gehen und diesen verrückten zu melden, doch es ging nicht. Da war noch immer dieser Stalker... Moment... Stalker?

Panisch sprang Keira auf und lief zu den Fenstern. Ihre Angsterfüllten Augen suchten die Umgebung ab. Wo war er? War er immer noch da? Irgendwo zwischen den grünen Blättern vielleicht? Sicher, sie hatte schon in der Küche versucht ihn zu entdecken, aber jetzt hatte sie mehr Zeit. Der Schock war zwar noch lange nicht überwunden und die Panik hatte noch immer ihre Gedanken und ihren Körper in Anspruch genommen aber sie musste doch irgendwas tun. Irgendwas...

Noch immer konnte sie nichts finden. Gar nichts. Wie konnte das sein? Wenn er sie beobachtete, dann musste er doch irgendwo in den Bäumen sein oder? Plötzlich fiel ihr Blick auf die Hochhäuser, die einige Hundert Meter entfernt waren. Sie waren bedrohlich und dunkel. Sie herrschten mit eiserner Faust über diese Stadt und jeder, der sich ihnen widersetzten wollte, musste mit eine kläglichen Niederlage rechnen. Das musste es sein. Dort war er. Garantiert.

Was sie von ihrer Wohnung aus nicht sehen konnte, war das teuflische Grinsen, des Mannes, der an der Fensterfront des besagten Hochhauses stand. Er hielt ein Fernglas in der Hand und beobachtete ihr Tränenüberströmtes Gesicht, welches angestrengt in seine Richtung schaute. "Sie hat mich also gefunden..." war das einzige, das seine dunkle Stimme sagte, doch es wog so schwer wie tausende Wörter.

You made me a killerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt