Feuerprobe (1)

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Am Montag in der Schule tut mein Daumen immer noch weh. Eigentlich kein Grund zum Rumjammern, schließlich ist es nur ein kleiner Schnitt, aber der Schmerz erinnert mich bei jeder Bewegung daran, dass ich von nun an unwiederbringlich Mitglied eines uralten magischen Geheimkults bin.

Der und das Buch in meinem Rucksack.

Gestern, gleich nach meinem Blutpakt, hat mich Demetra zu einer verschlossenen True voller Bücher geschleppt. Aus diesem bunten Sammelsurium sollte ich mir eines aussuchen, das von nun an mein Portal nach Fabelreich sein würde. Seit dem Tod der Stormglen Schwestern ist es niemandem mehr gelungen, neue herzustellen, was diese Bücher ungeheuer wertvoll macht. Demetra hat mir eingeschärft, gut darauf aufzupassen und das tue ich, denn ich schleppe das Ding wirklich überall hin mit. Auch wenn ich es immer noch ein wenig gruselig finde, kann ich kaum erwarten, heute nach der Schule zum ersten Mal damit zu reisen.

Mein Vater hat die Ausrede sofort geschluckt. Ein Blick auf das von den Wächtern gefälschte Formular für Mathe Nachhilfe und er war überzeugt, ich würde von nun jeden Nachmittag einen Förderkurs besuchen. Bei meinen miesen Noten durchaus glaubwürdig.

Als ich mich nach zwei quälenden Stunden Physik endlich bei den Brennnesseln hinter der Sporthalle auf den Boden knie und meinen Rucksack aufreiße, klopft mir das Herz schon bis zum Hals. Es gibt einen Grund, warum ich heute in Stormglen Manor erwartet werden. Und deswegen weiß ich nicht, ob mein Herz vor Aufregung oder Panik so heftig schlägt...

Zwischen den ganzen Schulheften ist das Portalbuch bis auf den Taschenboden gerutscht. Ich ziehe es heraus und wische ein paar Kekskrümel vom Einband. Er ist mit feinem dunkelviolettem Stoff bespannt. Eine Frau in griechischem Kleid, mit einem zarten Schleier über dem Gesicht, Blumen im Haar und einer Eule auf der Schulter ist in Silber auf das Cover geprägt. Aus Demetras Truhe durfte ich mir irgendein Buch auszusuchen, das mich anspricht und dieses hier war eines der Schönsten. Typisches Cover-Opfer eben, aber der Inhalt ist in diesem Fall auch wenig aussagekräftig. Demetra hat mir erklärt, dass bei der Erschaffung von Fabelreich der Text aus allen Portal-Büchern gelöscht wurde. Stattdessen sind die leeren Seiten jetzt voll mit Notizen der verstorbenen Wächter, denen mein Buch einst gehörte. Nach dem Tod eines Wächters geht das Buch zurück an das Kolleg und es hat sich zu einer Art Tradition entwickelt, darin Lebensweisheiten an den nächsten Besitzer zu hinterlassen. Ich habe noch nicht nachgeschaut, welche Ratschläge mir meine Vorgänger erteilen wollten, und ich bezweifle, dass ich ihre Schriften lesen kann. Im Moment gibt es ohnehin wichtigeres zu tun.

Wahllos schlage ich irgendeine Seite auf und halte das Buch fest mit beiden Händen. Gestern habe ich den ganzen Abend geübt, jetzt muss es einfach klappen. Mit geschlossenen Augen stelle ich mir das Kolleg vor, das alte Herrenhaus zwischen Wald und Meer, so intensiv, dass ich die salzige Luft fast schon schmecken kann.

Noch bevor ich die Augen öffne, spüre ich ihn. Um mich herum formt sich der altbekannte Strudel aus Licht. Heute, vielleicht, weil ich schon weiß, was kommt, geht es viel schneller. Einen Wimpernschlag später stehe ich bereits in Fabelreich.

Ich atme tief durch. Irgendwie muss ich mich immer noch an den Gedanken gewöhnen, dass ich nicht träume. Dass alles hier echt ist, kein Buch und keine Fantasie. Ein ganzes Land voller Magie. Wahrer Magie.

Diesmal bin ich nicht auf der Strandseite, sondern direkt vor dem Haupteingang gelandet. Über mir ragt das alte Kloster in den Himmel, grau in grau mit den tiefhängenden Wolken. Nur der wilde Wein, der sich ins Mauerwerk krallt und vom Herbst leuchtend rot verfärbt ist, hebt sich ab. Während meine Augen die überwucherte Fassade hinaufwandern, ertappe ich mich beim Gedanken daran, welches der Fenster wohl Mo gehört. Ob es für ihn schön war, hier aufzuwachsen? Was macht man den ganzen Tag in einem Haus, das weder Strom noch Internetanschluss hat? Halt, nein. Strom zumindest gibt es, sonst würden die Lampen nicht brennen.

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