„Damon Blackwell." Der Rebell schüttelt lachend den Kopf, eine Bewegung, die seinen Hippie-Haarknoten hin und her rutschen lässt. „Mir wurden ja schon viele unschmeichelhafte Namen gegeben. Aber mit dem hat mich bis jetzt noch niemand verwechselt. Wirklich niemand."
Mo und ich tauschen einen Blick, offenbar beide unentschlossen, ob wir peinlich berührt oder verwirrt wirken sollen. Der Rebell – nein, halt. Wahrscheinlich es ist an diesem Punkt angebracht, seinen richtigen Namen zu nennen. Schließlich hat er sich uns vorgestellt, gleich nachdem er unsere Fesseln gelöst und beschlossen hat, uns zu vertrauen. Vielleicht ist das so üblich unter Schattenwächtern? Gleich und gleich vertraut einander? Ich habe keine Ahnung. Jedenfalls führt uns Nicolas, jetzt ohne Fesseln und versteckte Kämpfer im Schatten, durch den Innenhof hinaus auf eine steinerne Balkonterrasse mit Blick über ein weites Tal.
„Setzt euch." Er deutet auf eine Speisetafel am Rand des Balkons. Dahinter geht orangerot die Sonne unter. „Ihr müsst hungrig sein. Wer nach Antworten sucht, ist immer hungrig."
Erst jetzt sehe ich, dass die Villa auf einem Berg liegt. Sie klebt am Felsen, wie ein übergroßes Möwennest. Zu drei Seiten erheben sich bewaldete Hügel, nur eine Seite öffnet sich dem Meer entgegen. Eingebettet im Tal dazwischen, liegen die Ruinen einer südeuropäischen Kleinstadt, wie man sie zuhauf an den italienischen Küsten findet: Hohe, weiß getünchte Häuser mit terrakottafarbenen Dächern und Fensterläden in allen Schattierungen von Braun. Okay, die Häuser sind nicht wirklich Ruinen. Vielleicht ist das Gemäuer einfach schon so beansprucht, dass Risse oder abgebrochene Mauerteile normal sind und hin und wieder wurden auch ein paar Ziegel ersetzt, aber trotzdem: diese Stadt ist eindeutig alt. Wahrscheinlich antik. Mit der kleinen Ausnahme, dass sie nicht von den alten Römern, sondern einer ganzen Horde Fabelwesen bewohnt wird.
In den engen Gässchen sehe ich kaum eine Seele, aber hin und wieder flirren silberne Flügel durch die Luft oder ein Phönix stößt als rotgoldene Flamme aus dem Bergwald. Manche kann man gar nicht übersehen, zum Beispiel den riesigen Dachen, der seinen Schwanz um den viereckigen Kirchturm gerollt hat und vor sich hin döst. Seine goldenen Schuppen reflektieren das Abendlicht und lassen meine Augen tränen, bis ich wegsehen muss. Oder die Elfe, die uns jetzt das Essen bringt. Nur kurz streift mein Blick die Platten, Feigen, Oliven, Schafskäse und Tomatenbrot - mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Dann fällt er auf die Elfe und ich ziehe scharf die Luft ein. Bilder rauschen an meinen Augen vorbei. Ein Abend im Winter, Sternschnuppen, schwarze Seide.
„Arachne?" Ich war mir nicht sicher, aber als ich sehe, wie sie errötet und meinem Blick ausweicht, bin ich es. Arachne hat mein Kleid für den Winterball geschneidert. „Du gehörst auch zu denen?"
„Sie überbringt nur Nachrichten in meinem Namen." Nicolas macht eine Geste mit der Hand und Arachne zieht sich rasch in die Villa zurück. „Wie glaubt ihr, habe ich mich mit Eleanor austauschen können?" Er beugt sich vor und häuft Käse auf sein Olivenbrot. „Greift zu. Was? Überrascht, dass wir Rebellen keine Menschen essen?"
Mo verzieht keine Miene. „Ihr habt Reigen umgebracht. Vielleicht wollt ihr uns ja vergiften."
„Dafür bist du nicht wichtig genug, Mortimer."
„Woher-"
„-ich deinen Namen kenne?" Nicolas grinst. „Ein Schattenwächter, der Eleanors Sohn sein könnte? Denkst du, ich hätte dich von deinen Fesseln befreit, wenn ich nicht sicher wäre, dass du zu ihr gehörst?" Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück und mustert Mo mit einer Mischung aus Mitleid und Verwunderung. „Eleanor und ich waren einmal Freunde. Vor langer Zeit. Und fürs Protokoll, ich habe sie weder entführt, noch Reigen auf dem Gewissen." Er neigt den Kopf zur Seite. „Seltsam. Eleanor kam mir nie wie der mütterliche Typ vor. Aber hier stehst du, ein Junge von sechzehn und weinst ihr hinterher wie ein Baby seiner Kuscheldecke." Mo ballt die Hände zur Faust, aber Nicolas hat sich schon mir zugewandt. „Und du bist das neue Mädchen, von dem alle reden? Lina, nicht? Interessant. Ihr zwei seid im Kolleg sicher eine Sensation. Ein Wunder, dass ihr es überhaupt bis hier her geschafft habt. Demetra muss euch hüten, wie ein Drache sein Gold."
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Fabelblut
FantasyEigentlich sollte es nur eine Klassenfahrt nach Schottland werden - aber als Lina auf einem Friedhof in Edinburgh plötzlich von einem Geschöpf wie aus einem Fantasybuch angegriffen wird, ändert sich ihr Leben über Nacht. Ehe sie sich versieht, finde...