Im Kollegium der Schatten tickt eine Standuhr.
Sie ist nicht stehen geblieben, natürlich nicht. So etwas gibt es nur in Filmen. Zeit ist ein Fluss, er stoppt oder rast für niemanden.
Ein leiser Gong. Acht Uhr. Eleanor ist jetzt schon über eine Stunde tot.
Die Standuhr tickt weiter.
Mit dem Stundenzeiger klettert auch die Sonne das Zifferblatt empor. Noch ist sie von Nebelschleiern verhüllt, aber erste Strahlen bringen das sonst trüber Milchglas schon zum Glänzen. Als sie sich endlich über die Fensterbank des Lesezimmers schiebt, fällt ihr Licht auch auf den verlassenen Sessel mit Karomuster. Wie bei einem Barockgemälde zeichnet es dramatische Schatten in die Falten der Kuscheldecke, die darauf liegt. Bricht sich im leeren Whiskeyglas am Kaminsims. Tanzt in Prismen über die dunklen Holzvertäfelungen.
Das leere Schlachtfeld, hätte Eleanor so ein Bild betitelt. Was sie natürlich nicht tut. Eleanor wird nie wieder irgendwas irgendwie kommentieren.
Die Standuhr tickt weiter.
Dann schlägt sie neun und Lina die Augen auf.
***
Irgendwo piepst ein Wecker. Ich drehe den Kopf, lehne mich über Mo und schlage in der Dunkelheit blindlings nach dem Leuchtzifferblatt auf seinem Nachttisch. Mit einem lauten Scheppern schlägt der Wecker auf den Boden.
Ups.
Naja. Immerhin hat es seinen Zweck erfüllt. Das blöde Ding gibt Ruhe.
Gähnend reibe ich mir den Schlaf aus den Augen. Ich hatte einen seltsamen Traum. Von einer fauchenden Katze und Krallen, die sich in Holz wetzen.
Durch einen Spalt im Fenster dringt Tageslicht ins Zimmer. Mo bewegt sich im Schlaf, öffnet die Augen. Er blinzelt und als er mein Gesicht über seinem bemerkt, zieht sich ein verschlafenes Grinsen über seinen Mund. „Könnte mich dran gewöhnen, so aufzuwachen."
„Morgen." Keine Ahnung, ob ich rot geworden bin. Wäre wahrscheinlich auch egal, dunkel wie es ist. Seltsamerweise habe ich plötzlich das Bedürfnis, ihn zu küssen. Nicht so richtig küssen, aber vielleicht ganz kurz, flüchtig. Auf die Wange. Unsere Gesichter sind so nah beieinander, es kommt mir irgendwie richtig vor.
Dann seufzt Mo, rollt sich auf die Seite und der Moment ist vorbei. „Wie spät haben wir?"
Ich schlucke. „Kurz nach neun."
„Dann kann ich es wohl nicht länger rauszögern. Eleanor wird mittlerweile zurück sein."
„Sie ist schon gestern Nacht gekommen." Ich setze mich auf. „Nicolas und sie haben gestritten. Hab es auf dem Gang gehört."
„Na, toll." Mo schwingt die Beine aus dem Bett und schlüpft in seine Hausschuhe. „Da freue ich mich ja jetzt schon auf das Frühstück. Wird sicher ein großer Spaß, wenn die beiden sich die ganze Zeit passiv aggressiv anschweigen."
Ich folge Mo in den Gang und wäre fast mit ihm zusammenstoßen, weil er mitten in der Türschwelle plötzlich stehen bleibt. „Was ist-"
Dann höre ich es auch. Ein Jammern, wie das Weinen eines Babys. Kratzende Krallen. Es sind die Geräusche aus meinem Traum. Nur, dass es ganz offensichtlich kein Traum war.
„Morwen." Mo macht einen Schritt vor. Die Nachtmahrkatze kauert hinter der Eingangstür zu unserem Kollegium. Fauchend schlägt sie die Krallen ins Holz und kratzt, als versuche sie verzweifelt, nach draußen zu kommen. „Morwen! Was ist los?"
Sie wendet ihm die glühenden roten Augen zu. Ihre Pupillen sind riesig. Rasch trippelt sie auf uns zu und verschwindet dann miauend hinter der Tür zum Lesezimmer. Ich tausche ein Stirnrunzeln mit Mo, bevor wir ihr nachgehen.
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Fabelblut
FantasyEigentlich sollte es nur eine Klassenfahrt nach Schottland werden - aber als Lina auf einem Friedhof in Edinburgh plötzlich von einem Geschöpf wie aus einem Fantasybuch angegriffen wird, ändert sich ihr Leben über Nacht. Ehe sie sich versieht, finde...