Der Mond steht hoch am Himmel, als ich auf die Lichtung trete. Sein Licht überzieht das frisch gefallene Laub wie Frost, mattiert die Farben des Herbstes. Sofort empfängt mich der Geruch nach Pilzen und sterbenden Blättern. Um mich herum schließt sich ein Kreis aus Roteichen, die schlanken Stämme silbern im Mondlicht. Bei Abendsonne wirken ihre Kronen um diese Jahreszeit wie mit flüssigem Gold übergossen, aber jetzt in der Nacht scheint es eher Tinte zu sein. Eine weitere Nuance Dunkelheit in die vielschattige Schwärze des Waldes.
Bis auf das gelegentliche Rascheln eines fallenden Blattes ist es ruhig. Irgendwo in der Ferne zirpt noch eine verwirrte Grille, die offenbar das Ende des Sommers verpasst hat.
Mein Blick ruht auf dem Teich in der Mitte der Lichtung. Für einen Augenblick spiegelt sich der Mond in seiner Oberfläche, eine perfekte weiße Scheibe. Dann beginnt sich das Wasser plötzlich zu wellen und das Spiegelbild zerläuft wie ein Nebelschleier. An seiner Stelle taucht ein schwarzer Haarschopf auf, gefolgt von einem Kopf. Ich verlagere mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, um meine Nervosität zu überspielen, als sich ein paar durchdringender grüner Augen über den Rand der Wasseroberfläche schiebt. Sie verharren dort, das Gesicht nur zur Hälfte sichtbar und beobachten mich. Es ist eine Szene wie aus einem Horrorfilm.
Meine Hand verkrampft sich in meiner Jackentasche und ich muss mich zwingen nicht wegzulaufen. Zu warten. Nichts zu tun.
Endlich hebt sich das Geschöpf weiter aus dem Teich. Es ist eine Frau, zumindest auf den ersten Blick. Wasser rinnt ihre nackten Schultern herab, die perlmuttfarben schimmern, wie fleischgewordenes Mondlicht. Ihr Haar fließt als langer, glatter Vorhang ihren Rücken hinab. Kein Härchen ist nicht da, wo es sein sollte, obwohl sie gerade erst aufgetaucht ist. Sommersprossen überziehen ihr perfekt symmetrisches Gesicht wie eine Sternenkarte und ihre Augen strahlen so unnatürlich hell, dass ich sicher bin, sie sind mit dem gleichen Stoff gefärbt, der auch Textmarker und die Augen von Nachtmahrkatzen zum Leuchten bringt.
Sie lächelt mich an. Dann öffnet sie den Mund, gerade so weit, damit man keine Zähne sieht, aber nicht, um zu sprechen. Eine Melodie dringt daraus hervor, so zart und angenehm; ich spüre fast, wie sie die kühle Luft um uns herum erwärmt. Sofort tauchen Bilder vor meinem Inneren Auge auf: Meine Mutter, die an einem regnerischen Tag mit mir gemeinsam singt. Ihre Stimme, die ich zu meiner Schande allmählich vergesse, klar wie lange nicht. Jeder Laut lässt mein Herz schmerzhaft verkrampfen. Es tut weh, ihr zuzuhören, aber gleichzeitig kann ich nicht weghören. Es ist unwiderstehlich, sie wieder zu hören. Obwohl ich wusste, was passieren würde, obwohl ich vorbereitet war, bin ich gefangen in einer Trance aus Erinnerung und Stimme.
Nur am Rande nehme ich wahr, dass ich an Teichufer auf die Knie falle. Trockene Blätter zerbröseln knistern unter mir. Ein feines Plätschern von rechts, fast lautlos, als sich die Frau näher zu mir ans Ufer bewegt. Sie steht mir jetzt direkt gegenüber. Ich kann die Wassertropfen auf ihrer Stirn zählen, die Sommersprossen um ihre Nase. Behutsam strecke ich die Hand nach ihr aus, sehe meine eigenen zitternden Finger vor ihrem Gesicht schweben. Noch immer dringt die Stimme meiner Mutter aus ihren halb geöffneten Lippen. Dann, als hätte meine Bewegung ihr die Erlaubnis gegeben, reißt sie auf einmal weit den Mund auf offenbart eine Reihe nähnadelspitzer Zähne.
Ich bin vorbereitet. In Sekundenschnelle öffne ich meine geistigen Schleusen und lasse die Wut durch mit fluten. Wut auf dieses Wesen, dieses Raubtier, das sich der Stimme meiner Mutter bedient, um mich zu töten. Ein Schatten schnellt aus meiner schon ausgestreckten Hand. Bevor sich das Fabelwesen weiter aus dem Wasser schieben kann, hat er sich schon um ihren Hals geschlungen. Eisige Welle Teichwasser schwappen über meine Knie, als die Frau sich panisch mit der Schwanzflosse vom Ufer abstößt, um von mir wegzukommen. Natürlich hat sie keine Chance. Mit einem leichten Krümmen meines Zeigefingers zieht sich das Schattenband fester um ihren Hals. Zufrieden beobachte ich, wie ihre Augen hervortreten und sie mich anstarrt, während sie um Luft ringt. Ihre Hände fahren zu ihrem Hals, zerren panisch an den Schatten, die sie nicht fassen kann und zum ersten Mal sehe ich die Schwimmhäute daran, kleine durchscheinende Flügel, die ganz offensichtlich zeigen, dass dieses Wesen vor mir keine Frau ist.

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Fabelblut
FantasyEigentlich sollte es nur eine Klassenfahrt nach Schottland werden - aber als Lina auf einem Friedhof in Edinburgh plötzlich von einem Geschöpf wie aus einem Fantasybuch angegriffen wird, ändert sich ihr Leben über Nacht. Ehe sie sich versieht, finde...