„Lina?" Mo starrt mich an. „Lina soll neue Priorin werden?"
„Nach Wunsch meiner Schwester, ja", sagt Margret leise. Sie beobachtet ihren Sohn genau, jede Veränderung seiner Mimik.
„Das ist doch ein schlechter Scherz?" Als er die Augen zusammenkneift, entstehen Falten auf Mos Stirn. „Lina ist erst seit ein paar Monaten hier!"
Margret schmunzelt. „Sie ist eine Schattenwächterin."
„Das bin ich auch! Wenn Eleanor jemanden aus dem Kollegium wollte, warum dann nicht mich? Ich lebe seit sechzehn Jahren unter Wächtern!"
„Jetzt halt mal die Luft an!" Ich mache einen Schritt auf ihn zu. Seine Reaktion überrascht nicht wirklich, aber die Heftigkeit trifft mich. „Mo. Ich weiß doch selber nicht, was das soll. Natürlich wärst du besser geeignet. Du oder Nicolas-"
„Ja! Das wären wir!", ruft Mo und seine Stimme klingt aggressiv. „Was hast du eigentlich mit Eleanor gemacht? Erst dieser Blutpakt und jetzt das - eine Siebzehnjährige als Priorin! Seit ihr allein im Kollegium seid, ist sie nicht mehr sie selbst! Die alte Eleanor hätte keine so irrationale Entscheidung getroffen! Nie!" Dann wird seine Miene plötzlich ausdruckslos, wie wenn ein neuer Gedanke durch seinen Kopf ziehen würde. „Ah. Natürlich." Er lacht bitter. Für ihn ein völlig untypischer Laut. „Das ist es, oder? Ich bin Damons Sohn. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Beide Elternteile anfällig für die dunkle Seite - wer weiß, als was ich mich noch entpuppen werde. Das Risiko geht sie lieber nicht ein."
„Mo..." Ich schüttele nur den Kopf. Das können nicht Eleanors Gedanken gewesen sein. „Du bist-"
„Lass es, Lina. Ich hätte einfach nicht zurückkommen sollen." Damit dreht er sich um und stapft davon. Lässt mich zurück, allein mit Eric, Nicolas und dem grauen Umhang, der mir plötzlich schwer auf den Schultern liegt.
Eine halbe Stunde später zittere ich noch immer.
Wir sitzen um einen Tisch im Kollegium der Schatten. Das heißt, Eric und ich sitzen. Mo hat sich in seinem Zimmer verschanzt und Nicolas geht vor uns auf und ab. Dabei schüttelt er den Kopf. „So leid es mir tut, Mortimer hat Recht. Was ist in Eleanor gefahren? Ich meine, was zur Hölle? Lina ist ein Kind! Besorgt mir ein One-Way-Ticket, ich muss in die Menschenwelt. Eleanor soll mir das erklären! Sie kann uns nicht einfach einen Scherbenhaufen hinterlassen und sich dann sang- und klanglos aus dem Staub machen!"
Eric wiegt sein Whiskeyglas in der Hand. „Hast du mal in Erwägung gezogen, dass es womöglich Teil des Deals war? Würde Damon ähnlich sehen: Zuerst Eleanor ausschalten und sie dann zwingen, die jüngste, unqualifizierteste Wächterin zur Priorin zu machen. So kann man das Kolleg auch kampfunfähig machen."
„Mag sein", faucht Nicolas und unterbricht seine Bewegung kurz, um Eric einen genervten Blick zuzuwerfen. „Aber das erklärt noch lange nicht, warum sie sich darauf eingelassen hat. Wie konnte sie so blöd sein?"
„Das reicht jetzt, okay!" Die ganze Zeit bin ich still geblieben, habe schuldbewusst auf die Tischplatte gestarrt, während die beiden Männer über meinen Kopf hinweg geredet haben. Aber jetzt ist es genug. „Du warst nicht in meiner Schule, Nicolas! Du hast nicht erlebt, wie Blackwell mit dem Leben einer ganzen Klasse gespielt hat! Wirfst du Eleanor ernsthaft vor, dass sie Mo und mich gerettet hat? Sei doch mal ehrlich zu dir selbst: Würdest du deine Familie für das Kolleg opfern? Für eine Institution, von der du gar nicht weißt, ob es sich überhaupt lohnt, sie zu bewahren? Ich sag nur, Mobbing, Ausgrenzung, Unterdrückung. Dazu ein Rechtssystem, bei dem einem die Haare zu Berge stehen. Woher kommt dein plötzlicher Eifer für das Kolleg? Du bist ein Rebell!"
Aus dem Augenwinkel sehe ich Eric zustimmend nicken, aber Nicolas funkelt mich nur an. „Ich habe keine Liebe für das Kolleg", sagt er. „Aber im Moment ist es alles, was zwischen uns und Damon steht. Wenn die Wächter kein starkes Bündnis mit dem Triumvirat schließen, macht er uns fertig."
DU LIEST GERADE
Fabelblut
FantasyEigentlich sollte es nur eine Klassenfahrt nach Schottland werden - aber als Lina auf einem Friedhof in Edinburgh plötzlich von einem Geschöpf wie aus einem Fantasybuch angegriffen wird, ändert sich ihr Leben über Nacht. Ehe sie sich versieht, finde...