Wo Schatten, da auch Licht (2)

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Der Nachmittag ist träge. Obwohl wir Mitte Oktober haben, hängt heute noch ein Rest Sommer über der Stadt. Es riecht nach warmem Tomatengrün und Zigarettenqualm, der vom Balkon unter uns heraufzieht. Die Blätter meiner Pflanzen in den Tontöpfen um mich herum wirken unter der Sonne schlaff und kraftlos.
Ähnlich fühlt sich auch mein Gehirn an, als ich zum zehnten Mal den ersten Ansatz meine Mathehausaufgabe lösche. Ich kann es einfach nicht. Dieses Fach wird auf ewig wie eine Fremdsprache für mich sein, bei der ich nicht nur erhebliche Vokabellücken habe, sondern auch die Grammatik nicht verstehe. Keine Ahnung, wie das bis zum Abitur was werden soll. Eigentlich wollte ich mich mit Wahrscheinlichkeistrehnung ablenken, aber immer wieder schweifen meine Gedanken in Richtung Fabelreich.

Nach meinem Auftritt im Kollegium bin ich ohne Zögern nach Hause gereist. Meine Übungszeit war noch nicht beendet, aber das hat niemanden gekümmert. Mich am wenigsten. Ich will Fabelreich, das wird mir immer klarer, während ich auf die schmutzigen Häuserblocks um mich herum starre. Aber dieses Kollegium, das will ich nicht. Sollen sie ihre blöden Schatten doch behalten. Mit Eleanor rede ich jedenfalls kein Wort mehr. Selbst jetzt, Stunden später, kann ich die Wut immer noch spüren. Was bildet sich diese Frau ein, meine Gefühle zu bewerten? Ich bin vielleicht nicht die Selbstdisziplin in Person, vor allem nicht, wenn es an die Mathe Hausaufgaben geht, aber meine Impulse habe ich unter Kontrolle. Die tut ja wirklich so, als könnte ich jeden Moment Amok laufen, nur weil Papas neue Freundin eingezogen ist.

Ich reiße den Blick vom Laptop Bildschirm los und lasse meinen Blick über die Dächer schweifen. Aber diesmal sehe ich keinen Beton mehr, keine Mietswohnungen. Ich sehe unser altes Haus. Knorrige Apfelbäume, durch die das Licht flirrt. Hochbeete mit Kürbis und Buschbohnen. Es war ein typisches Vorstadthäuschen, komplett von wildem Wein überwuchert. Als Kind habe ich mir immer vorgestellt, dass einst Hexen darin gelebt haben. Mein Zimmer lag direkt unter dem Dach, mit einem Fenster, das von Bäumen umgeben war. Zwischen Pflanzen habe ich mich schon immer zuhause gefühlt. Sie reden wenigstens kein dummes Zeug.

Seufzend kehre ich zu meiner Aufgabe zurück. Seit es Glasschneidestimme gibt, ist das alles vorbei. Der Garten, die Pflanzen, das Haus. Meine Großeltern haben sich nach dem Tod meiner Mutter um mich gekümmert, genauso wie um Papa. Aber für drei Leute war schlicht kein Platz und mein Vater wollte ohnehin einen Neuanfang. Im Gegensatz zu mir konnte er es offenbar kaum erwarten, alle Erinnerungen an Mama hinter sich zu lassen. 

Du hast keine Ahnung wie gefährlich du bist. Das Gesicht von Glasschneidestimme taucht vor mir auf und seltsamerweise spricht sie mit der Stimme von Eleanor. Wie von selbst ballt sich meine Hand zur Faust. Ich hasse sie, diese klugen, alten Frauen, die meinen, mir die Welt erklären zu müssen. Ich hasse sie alle beide.

Und nicht nur sie. Meine angeblichen Freunde, für die ich zum Abschreiben gut genug, aber ansonsten nur das dritte Rad am Wagen bin. Dieses hässliche Haus ohne Schönheit oder Herz. Und ganz besonders diese verdammte, fade Mathaufgabe, von der ich nicht weiß, was sie mir eigentlich bringen soll! Ich hebe die Hand, will den Laptop zuschlagen.

Oder zumindest denke ich das.

Die Wut durchzuckt mich wie ein Stromschlag. Ein Rauschen dröhnt durch meine Ohren, mein eigenes kochendes Blut. Ich kann nicht mal mehr die Augen schließen, als das Bündel Schatten wie ein Schwert aus meinen Handflächen schießt.

Ein Blitz, ein Krachen-

Und mein Laptop steht in Flammen.

Was- Ich stolpere zurück.

Mit einem Knirschen zersplittert der Bildschirm in seine Einzelteile.

Ein Schrei löst sich aus meiner Kehle, aber ich höre ihn nicht. In meinem Kopf ist nichts außer dem Pochen von Blut.

„Lina!" Nur am Rande nehme ich wahr, wie sich der Kopf meines Vaters durch die Balkontüre schiebt. Dann reagieren meine Instinkte.

Ich dränge mich an ihm vorbei und renne.

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