Nun liegt es an beiden, Drache und Mensch, die ältere Frau verwirrt anzusehen.
„Menschen sollen auf meinem Rücken sitzen?! Wir sind Drachen, uns hat man zu fürchten!", empört sieht Schocker aus dem Augenwinkel zu der älteren Dame. So langsam ist er sich sicher, dass diese Frau nicht nur genauso seltsam wie das Menschenkind ist, sondern noch einen gehörigen Dachschaden dazu hat. Menschen, auf Drachen! Sowas würde er sich doch niemals träumen lassen! Auch wenn dieses Menschenkind anders ist, so... weiß er nicht, ob er das kann. Einen Menschen auf seinem Rücken sitzen zu lassen.
Stumm hat Violene dem Drachen zugehört. Wenn sie ehrlich ist, reizt sie der Gedanke schon sehr, auf dem Rücken eines Drachen nicht nur den Himmel zu erleben. Sondern so viel mehr noch die Welt, die da draußen vor ihr verborgen ist. Andererseits hat er auch recht. Menschen und Drachen, ob das nicht nur ein Wunschgedanke ist?
Rikke hat sich den beiden gegenüber hingesetzt, mit einem kleinen Korb Algen und 2 Bechern. Kurzerhand schiebt sie Violene einen Becher rüber und stellt den Korb vor die Schnauze des hellblauen Drachens. Skeptisch beäugt Schocker dies, erstmal nur daran schnuppernd.
„Danke dir, Rikke", murmelnd versucht die 15-Jährige ein Lächeln, „was sind das denn für Algen? Ich dachte, Drachen würden eher Fleisch essen. Und... auch Menschen"
„Nicht ganz. Tatsächlich ist es bei Drachen sehr individuell. So gibt es die einen, die bevorzugt verschiedene Fischarten fressen. Andere sind reine Pflanzenfresser. Wiederum andere bevorzugen es gemischt. Der Drache hier, ein Leuchtender Fluch, frisst neben Fischen auch Algen. Aber nicht irgendwelche gewöhnlichen. Bei diesen Algen handelt es sich um sogenannte Leuchtalgen. Sie sind für diese Drachenart überlebenswichtig. Zu lange...", Rikke bricht ab und schüttelt den Kopf, „Nunja. Viel wichtiger ist das Band zwischen euch beiden. Und warum ich euch eigentlich zu mir ins Haus geholt habe."
Während Violene ihr neugierig und besorgt zugleich zuhört, hat Schocker sich dann doch vom Hunger hinreißen lassen und frisst unbeirrt die Leuchtalgen. „Du erwähntest etwas von Menschen, die auf Drachen reiten. Aber das ist doch gar nicht möglich! Grodan meinte, dass Drachen uns Menschen nur töten wollen!"
„Und was ist mit dem Leuchtenden Fluch neben dir? Hat er versucht dich zu fressen?", liebevoll mustert Rikke das junge Mädchen vor sich, „Außerdem... du weißt, was ich von deinem Onkel und seinen... Ansichten halte. Er kann mich ruhig als Märchentante betiteln, aber ich weiß um die Wahrheit in diesen Legenden! Ihr beide könntet diese Legende neu aufleben lassen."
„Rikke, es... schau mal. Schocker ist erst recht nicht von der Vorstellung angetan einen Menschen auf seinem Rücken zu tragen. Und... so verlockend es auch klingt... mein Onkel wäre es doch noch weniger."
„Zuallererst, vergiss hierbei mal deinen Onkel. Hier geht es um dich und Schocker. Ein netter Name für einen Leuchtenden Fluch. Ihr beide spürt doch selbst, dass euch mehr verbindet als das, was Grodan da all die Jahre versucht hat, oder?"
Ertappt nickt die Angesprochene, das dunkle Holz vor sich musternd und einen großen Schluck trinkend. Das da mehr zwischen den beiden ist, das können sie beide nicht leugnen. Nur was?
Auf Geheiß von Rikke haben die beiden sich erneut auf den Weg in die Natur gemacht.
Doch hat sie den beiden dazu eine kleine Aufgabe gestellt. Und zwar sollen sie nicht sich einander annähern und mehr kennenlernen, sondern: Vertrauen.
Eine direkte Anleitung dazu hat sie ihnen nicht mitgeben, nur den Tipp das es sich von selbst zeigen würde. So kommt es, das Violene etwas ratlos auf einem Baumstamm die Lichtung mustert, während Schocker die Ruhe für Flugübungen nutzt, um seine Muskeln zu trainieren und immer länger und ausgiebiger in der Luft bleiben zu können.
Fasziniert beobachtet Violene ihn dabei, wobei der stille Wunsch wächst dieses Glücksgefühl mit ihm gemeinsam auf seinem Rücken erleben zu dürfen. Seine Übungen nicht kommentierend lässt sie ihn machen. Und wartet still darauf, dass er eine Pause einlegt.
Einfach machen... Sich einfach leiten lassen, das war ihr Rat. Nun...
In aller Seelenruhe landet der hellblaue Drache und streckt sich einmal, als sein Blick auf das Menschenkind fällt. Sie ist so anders. Und nicht nur, weil all die anderen Menschen sie anscheinend systematisch meiden und nicht leiden können. Aber ihre nächste Handlung verwirrt ihn noch mehr als diese zwei Tage. Eben noch lächelte sie in seine Richtung, als sie im nächsten Moment den Kopf senkt und zögernd ihre flache Hand entgegenstreckt.
Vorsichtig sieht er sich um, seine Flügel einmal ausbreitend. Hin und hergerissen zwischen einfach wegfliegen, sie angreifen oder sitzen zu bleiben. Er könnte sie paralysieren, er könnte seine Chance nutzen und verschwinden. Endlich ein Leben in Freiheit leben. Nie wieder unter Menschenhand.
Still behält Violene die Augen geschlossen.
Nervosität macht sich in ihrem Körper breit und nagt sich durch jede Faser ihres Körpers. Die Angst sitzt wie ein garstiges Tier in ihrem Nacken, festgebissen. Unter vier Augen hatte sie Rikke versprochen ihre Fähigkeit unter Kontrolle zu behalten. Das heißt, egal was passiert, sie wendet es nicht an. Egal was passiert, Schocker soll seinen freien Willen nicht verlieren. Außer es würde gar nicht anders gehen.
Es hatte so einfach geklungen, als sie ihr dies versprach. Dem Drachen ihr volles Vertrauen zu schenken, nicht von dieser Fähigkeit Gebrauch zu machen. Doch jetzt muss sie sich eingestehen: In der Theorie klingt vieles so oft einfacher, als es in der Praxis dann schlussendlich ist.
Er kann sie problemlos töten. Oder verschwinden. Wobei Ersteres schlussendlich wohl doch die angenehmere Möglichkeit wäre. Dann müsste sie wenigstens nicht die drohende Strafe ihres Onkels ertragen.
Vertrauen: Ein Wort, das so leichtfertig gebraucht wird, aber in seiner Tiefe eine so viel größere Bedeutung hat. Und gerade das müssen Drache und Menschenkind lernen.
Es scheint, als würde die Zeit stillstehen. Als im nächsten Moment kalte Schuppen ihre Hand berühren und etwas sich dagegen drückt. Das leise Schnauben eines Drachen lässt Violene ihre Augen aufreißen, nur um den leuchtenden Fluch vor sich zu sehen. Wie er seine Schnauze gegen ihre Hand drückt und... leise zu gurren scheint?
„Ich mag den Namen übrigens schon", grinsend sieht der Drache zu ihr auf, als er sich hinsetzt, „Und vielleeeeeeicht werde ich dich sogar auf meinem Rücken sitzen lassen!"
Noch erstaunter sieht die Angesprochene zu Schocker, das Gehörte erst einmal verdauen müssen. „Warte... was..? Also, das ist grad wirklich viel auf einmal für... so wenige Tage. Wenn wir mal die letzten Jahre ignorieren..."
Es scheint, als hätte Schocker im nächsten Moment einen verständnisvollen Blick für dieses Menschenkind und die gesamte Situation.
Vertrauen – Eigentlich lässt es sich sogar gleichsetzen mit Loyalität.
Möge kommen, wer will, was will und so oft es will, ich stehe zu dir.
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Auch wenn die beiden miteinander unnatürlich große Fortschritte machen, so blieb Schocker bei seinen Flugübungen lieber noch alleine. Vor allem, da der Gedanke, einen Menschen auf seinem Rücken zu haben, sich noch immer sehr befremdlich anfühlt.
Vor allem aber beobachtet Grodan skeptisch die beiden und ihr Verhalten zueinander. So freut er sich ziemlich – wenn man das denn freuen nennen kann – dass dieses Kind tatsächlich diese Fähigkeit besitzt. Und das Violene mit jedem Tag nennenswerte Fortschritte macht. Jedenfalls hofft er dies inständig. Denn die daraus resultierende Macht über Drachen, über die sein Dorf dann verfügen würde, wäre unvorstellbar. Eine Woche lässt er verstreichen, bis seine Geduld ein Ende hat.
Erneut ist der Abend hereingebrochen, wobei Schocker sich in einer Ecke zusammengerollt hat. Angespannt hatte Violene sich mit an den Tisch gesetzt und kaut noch langsamer als sonst auf ihrer Scheibe Brot. Dabei weicht sie seinem Blick konstant aus und hofft inständig, diesen Abschnitt so schnell wie möglich hinter sich bringen zu können. Aber es wäre nicht ihr Leben, wenn eben nicht das Gegenteil ihres Wunsches wahr wird.
„Violene, ich erwarte von dir mehr Fortschritte. Entweder dieser Drache ist zu mehr fähig als nur rumlaufen oder es war das letzte Mal, das er die Sonne gesehen hat." Dabei verzieht ihr Onkel keine Miene und bestreicht seine Brotscheibe beiläufig, als hätte er keine Drohung ausgesprochen. Nach dem Motto: Eine normale beiläufige Bemerkung, nichts anderes.
Aber Violene muss schlucken und versucht krampfhaft, sich dies nicht anmerken zu lassen. „Natürlich", hört sie sich leise sagen und sieht aus dem Augenwinkel zu Schocker. Dieser gibt sein Bestes so zu tun als würde er schlafen und nichts davon mitbekommen. Und doch spürt Violene, dass er die Drohung nicht so einfach hinnimmt, wie er tut. Dabei hat er in der vergangenen Zeit immer mehr Kraft bekommen und konnte schon richtig fliegen. Halt nur ohne sie.
„Wenn es mit diesem Drachen nicht funktioniert, werden wir einfach einen anderen fangen. Aber für dich wird es Zeit nützlich zu werden. Die Welt da draußen ist voller Gefahren. Da draußen verstecken sich unsere Feinde, die den Tod deiner Eltern zu verantworten haben. Ich hoffe du verstehst, dass es für unseren Stamm entscheidend ist, wenn du das Inselreich erkundest. Aber halte dich von den Menschen fern. Es sind gewissenslose Mörder."
Diesen Brocken muss sie erst einmal verdauen.
Ihre Eltern waren in all den Jahren nie Thema gewesen. Selbst wenn sie darüber Fragen an ihn hatte, so hat er sie immer harsch abgewiesen. Und plötzlich... das muss sie erst einmal verdauen. Abwesend fixiert sie ihren Teller und schluckt den letzten Bissen runter. Nur um genauso abwesend aufzustehen und in ihr Zimmer zu gehen. Verwirrt und überrascht sieht Schocker auf, bevor er ihr schnell folgt. Unbeeindruckt sieht Grodan den beiden hinterher, den Kopf schüttelnd und sich weiter seinem Essen widmend.
Unsicher sitzt Schocker neben dem Bett und sieht zu seiner neuen Vertrauten. Er hat schon so einige Emotionen und Verhaltensweisen der Menschen kennengelernt, aber wenn ein Mensch so auf dem Bett liegt. Da kommt auch ein Drache an seine Grenzen. Behutsam stupst er sie an ihrer Schulter an, als Violene erneut leise aufschluchzen muss. „Violene...", gurrt er leise.
Ein drittes Schluchzen unterdrückend dreht die Angesprochene sich zu ihm um und wischt sich einmal übers Gesicht. Im nächsten Moment versucht sie ein Lächeln, als Schocker sie auch schon mit seiner Schnauze im Gesicht anstupst. (DS) „Ach Schocker... Es ist einfach... ich weiß nichts über meine Eltern und er hat nie mit mir darüber geredet. Jetzt könnte ich endlich herausfinden was da hinter dem großen Meer ist, aber...-" In der nächsten Sekunde bricht Violenes Stimme.
„Wir werden gemeinsam diese Welt da draußen erkunden! Und ich bin mir sicher, dass viele Menschen da draußen deutlich lieber sind als..." Viel mehr muss er gar nicht sagen. Beide wissen auch so, wer damit gemeint ist.
Hey, danke dir fürs lesen :p
Ich hoffe, das Kapitel hat dir gefallen. Zeig es mir doch gerne mit einer Rückmeldung durch Votes und Kommis – Geisterleser kriege ich leider nicht wirklich mit 🥺😅
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Schatten der Vergangenheit (Httyd)
Fanfiction(Vorgeschichte zu "Die Wächterin") Angst. Ein Wort, mit dem sich ihr ganzes Leben zusammenfassen lässt. Seit sie sich erinnern kann kennt sie kein anderes Gefühl als Angst. Angst vor Strafe, vor ihrer Familie, vor Drachen. Jahre später wird sie zu...