6 - Run Boy Run

68 3 1
                                    

Nebel hatte sich über die Insel gelegt und selbst die Sonne war noch nicht bereit, sich sehen zu lassen.
Doch dies interessierte niemanden. Weder Drache noch Mensch hatte freiwillig Lust, sich bei diesen Bedingungen blicken zu lassen.

Erleichtert stellt Violene fest, dass der Tau-bedeckte Boden die meisten Geräusche ihrer Schritte problemlos schluckt. Auch wenn ihr Vorhaben ganz im Sinne ihres Onkels ist, so wären sie beim bevorstehenden Vorhaben doch lieber unter sich. Und das aus gutem Grund.
Mit dem altbekannten Stechen in ihrer Lunge erreicht sie die Klippe, vor welcher sich das scheinbar endlose Meer erstreckt. Und doch lässt sie es sich nicht nehmen, sich erstmals auf ihren Knien abzustützen und nach Luft zu ringen. Mit einem dankbaren Lächeln auf den Lippen atmet sie tief ein und lässt ihren Blick schweifen.
So oft hatte sie in all den Jahren schon das Meer beobachtet. Sei es bei Windstille oder wenn ein Sturm mit aller Macht das Wasser dominieren und die Wellen wie einen Spielball hin und her werfen. Heute ist ihre Chance, dass aus dem stillen "Beobachter sein" endlich mehr werden darf.

Lautlos landet Schocker neben dem Menschenkind, welches seinen Blick nicht vom Meer abwenden kann. Auch das ist so eine Sache, die dieses Mädchen von all den anderen Menschen hier unterscheidet: Sie gab ihm den Freiraum, in seinem Tempo loszugehen und sich in aller Ruhe auf das vorzubereiten, was nun kommt.
Und eben dieser Freiraum sollte den beiden später noch zugutekommen. Gestärkt und ausgeruht mit seinen Übungen von eben gerade setzt er sich neben sie und folgt ihrem Blick zum Meer hinaus.
Auch wenn er keine Erinnerungen mehr an diese blaue endlose Weite hat, so sagen ihm seine Instinkte deutlich, dass da draußen etwas Großes auf die beide wartet.
„Bist du bereit?", nur leise, fast unmerklich durchdringt Violenes Stimme die Stille, welche um die beiden herum herrscht. Dabei muss sie nicht mehr sagen, da doch beide wissen, was nun vor ihnen liegt. Und welche Opfer dies von beiden Seiten erfordert.
Unmerklich dreht Schocker seinen Kopf in ihre Richtung und stupst sie unmerklich an. Nur eine kleine Geste, eine kleine Berührung. Mit einer viel größeren Bedeutung dahinter. Genauso behutsam hebt Violene ihre Hand und berührt sanft seine Schnauze, an ihm vorbeigehend. Bis sie auf der Höhe seiner Flügel zum Stehen kommt.

Einatmen.
Ausatmen.
Durchatmen.
Sanft, kein Druck.
Langsam, keine Hektik.
Gemeinsam, nicht gegeneinander.

Im nächsten Moment sitzt sie auf seinem Rücken.
Spürt er, das da ein Mensch auf ihm sitzt und ihm vertraut.
Nur unmerklich breitet er seine Flügel immer mehr aus, während er die ersten Schritte probiert. Stück für Stück, behutsam, ausprobierend. Immer sicherer, bis seine Flügel ausgebreitet sind. Und das Menschenkind eine gute Sitzposition gefunden hat.
Als er sich plötzlich mit seinen Flügeln von der Erde abstößt und direkten Kurs hinauf in den Himmel, hinaus auf das Meer nimmt.
Gemeinsam.

Mit kräftigen Flügelschlägen nutzt der hellblaue Drache seine Chance und steuert direkt auf den dichten Nebel zu. Unbeirrt folgt er seinen Instinkten, Wind und Gischt auf seiner schuppigen Haut wahrnehmend. Unter den beiden das Meer, vor den beiden eine dichte Nebelsuppe und auf ihm-
Nie hätte sich der Leuchtende Fluch träumen lassen, das auf seinem Rücken jemals ein Mensch sitzen würde. Entgegen all der Vorstellungen darüber ist es doch anders als erwartet. Vor allem, da das Menschenkind auf seinem Rücken noch nicht den Dreh raushat, wie sie einen guten Halt auf ihm hat. Aber wer sollte ihr das verübeln? Es ist doch für beide das erste Mal. Umso wichtiger ist es ihm, dass er auf sie ein Auge hat. Und beim Fliegen gut aufpasst.
Plötzlich wird es hell um die beiden. Der Nebel, der sie eben noch umgab, ist verschwunden. Erstaunt hält Schocker darüber inne und macht eine leichte Drehung, sodass Mensch und Drache einen Blick zurückwerfen können. Wie eine Decke hat der Nebel sich über ihre Heimatinsel, die Tiefseespalter-Insel, gelegt und umgibt diese. Als wenn niemand je diese Insel entdecken dürfte. Oder wer auch immer da lebt, sollte durch den Nebel daran gehindert werden diese jemals verlassen zu können. Der Verdacht über Letzteres wächst in Violene noch mehr, als sie die restliche Umgebung wahrnimmt. Die ersten warmen Sonnenstrahlen der aufgehenden Sonne begrüßen beide, während der Himmel nur von einzelnen Wolken durchzogen wird.
Staunend bemerkt Violene dies und auch Schocker kann es sich nicht verkneifen. Das hier muss der Inbegriff von Freiheit sein. So muss sich Freiheit anfühlen.

Sich gegenseitig dabei anspornend erkunden die beiden dieses endlose weite Meer.
Unter ihnen dunkelblaues Wasser, wobei die Gischt aufspritzt, umso tiefer er fliegt. Über ihnen der hellblaue Himmel, dessen Weite sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken scheint. Noch wissen sie nicht, welche Gefahren in diesen endlosen Weiten auf die beiden lauert und sie am liebsten verschlingen will.
Nach mehreren Stunden und einer gefühlten Ewigkeit entdecken die beiden eine Insel, die mit jedem Meter immer größer zu werden scheint. Erstaunt darüber hebt Violene den Kopf und versucht, mehr zu erkennen. Es ist das erste Mal in ihrem Leben, das sie eine andere Insel, geschweige denn überhaupt etwas anderes als ihre Heimat sieht. Und eine Pause nach den letzten Stunden wäre bestimmt für beide gar nicht so schlecht. Nicht nur, weil ihr von dem Sitzen so langsam alles beginnt wehzutun. Auch der Drache wird vermutlich von dem ganzen Fliegen schon sehr erschöpft sein. Erst recht dadurch, dass er sie noch mittragen musste.
„Wie wäre es mit einer Pause, Schocker?", vorsichtig und doch gegen den Flugwind rufend, beugt Violene sich zu Schocker nach vorne.
Dieser nickt mit einem Schnaufen, während er beginnt in den Sinkflug zu gehen und diese mysteriöse Insel vor den beiden anzusteuern. Auf dem ersten Blick sieht diese Insel ihrer Heimatinsel doch sehr ähnlich aus. Mit Klippen, Bergen, Wäldern und auch mal freien Flächen. Aber kein Anzeichen von menschlichem Leben. Ist das normal...?
Leise landet Schocker auf erdigem Boden, worauf Violene von seinem Rücken springt. Ungeniert nutzen beide ihre Chance und strecken sich erstmal. Mit klopfendem Herzen sieht Violene sich um. Noch immer kann sie es nicht fassen, dass sie es endlich geschafft hat.

Plötzlich raschelt es in einem der Gebüsche, nicht unweit von ihr entfernt.
Angespannt schnellt ihr Blick dorthin, unbemerkt von Schocker, welcher noch seine Flügel ausstreckt und versucht wieder ein Gefühl zu bekommen. Langsam und unwohl bewegt sie sich in dessen Richtung, den Blick von den Zweigen nicht abwenden können. Im nächsten Moment schnellt ein kleiner Schatten daraus hervor. Erschrocken hebt Violene aus Schutz den Arm vor ihr Gesicht, als ein leises Krächzen sie innehalten lässt. Verwirrt senkt sie ihren Arm, nur um vor sich einen orange-lilanen Schrecklichen Schrecken zu entdecken.
„Ich hätt dir sagen können, das auf dieser Insel Drachen leben", ertönt im selben Moment eine Stimme neben ihr.
(DS) „Nun, die Info kommt doch etwas zu spät. Spätestens jetzt dank diesem... Schrecklichen Schrecken, oder?", fragend sieht Violene dabei zu Schocker, der sich neben sie gesellt hat.
Dabei verpasst sie den verwirrten Blick des kleinen Drachen, der die beiden Neuankömmlinge noch verwirrter mustert. „Du Menschenkind sprichst die Sprache der Drachen? Wer seid ihr denn überhaupt?"
Nie hätte Violene sich träumen lassen, dass so etwas mal passieren würde. Mit einem knappen „Reisende" von Schocker gibt der kleine Drache sich dabei schon zufrieden. Denn so schnell, wie er auftauchte, so schnell ist der Schreckliche Schrecken wieder im angrenzenden Wald verschwunden.
„Bis jetzt wittere ich nur die Fährten von anderen Drachen. Aber keine Menschen. Vielleicht auch noch ein paar Tiere. Wenn die Drachen dich nicht unbedingt töten wollen, könnten wir hier eine Pause machen", nachdenklich lässt Schocker dabei seinen Blick schweifen, aufmerksam.
(DS) „Das klingt ja sehr optimistisch, wenn die Drachen mich nicht töten wollen..."
„Nun, kannst du es ihnen verübeln, so wie ihr Menschen reagiert und uns behandelt?", kaum hatte er diesen Satz gesagt, hält er inne. Denn auch wenn seine Aussage wahr ist und das Menschenkind selbst dies doch wissen müsste, so ist sie ja eben nicht wie die Menschen.

Entschuldigend senkt Schocker seine Schnauze und stupst Violene behutsam an, welche schuldbewusst den Blick gesenkt hat.
(DS) „Ich weiß. Das, was die Menschen mit Drachen machen... das darf einfach nicht sein. Es ist falsch! Es ist unschuldiges Blut, das an unseren Händen klebt! Und sooft ich versuche es von meinen Händen abzuwaschen, ich schaffe es nicht! Es tut mir leid...", die letzten Worte gehen dabei schon fast im aufkommenden Schluchzen unter.
Diesen Schmerz bei Violene nur erahnend sieht der hellblaue Drache zu ihr auf. Wobei er ein paar verstohlene Tränen in ihrem Gesicht entdeckt, die sich unnachgiebig trotzdem ihren Weg bahnen wollen.

* * * * * * * * * * * * * * * * * * *

Die Sonne lässt sich vom Treiben auf der Erde nicht irritieren und setzt ungestört ihren Weg am Himmel fort. So neigt sich der Tag langsam dem Ende zu, während Violene und Schocker ihren Weg durch die Insel fortsetzten und dabei noch einigen Drachen begegneten.
Noch immer kann sie nur staunen über all die Begegnungen und neuen Eindrücke dabei. Sie konnte für mehrere Stunden auf dem Rücken eines Drachen reiten und läuft aktuell durch eine ihr komplett fremde Insel. Dabei entgeht ihr nicht, dass die Sonne schon längst wieder Richtung Westen unterwegs ist.
(DS) „Denkst du, wir können auf dieser Insel hier für die Nacht irgendwo unterkommen oder würde es Probleme mit den anderen Drachen geben?"
„Noch haben die ja nicht versucht dich zu fressen", erwidert Schocker trocken, kann sich aber ein gewisses Grinsen nicht verkneifen, „Solang kein anderer Drache auf den Platz dann besteht, dann lassen die uns bestimmt in Ruhe."
(DS) „Vielleicht wäre eine Höhle oder so dann gar nicht so schlecht. Dann wären wir vor möglichem schlechten Wetter geschützt und können uns auch etwas von den Drachen zurückziehen. Ich glaub, die fänden das auch gar nicht so schlecht."
Vorsichtig schmunzelnd lässt sie ihren Blick schweifen und beginnt nach einer geeigneten Höhle Ausschau zu halten. Dabei gibt es viele wilde Drachen, die immer mal wieder neugierig den beiden hinterhersehen. Solch ein Drache und ein Mensch, gemeinsam hier unterwegs?
Zum Glück dauert die gemeinsame Suche nicht mehr so lange und schon bald konnten sie ein trockenes Plätzchen finden. Auf den ersten Blick scheint die Höhle dabei auch leer zu sein. So ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie diesen Platz keinem anderen Drachen streitig machen.

Jetzt, wo beide zum ersten Mal an diesem Tag so richtig zur Ruhe kommen können, merken auch beide wie erschöpft sie schlussendlich sind.
Wie viel Kraft das Fliegen und das Erkunden dieser fremden Insel schlussendlich gebraucht hat.
Und wie verlockend der Schlaf einen dann in Empfang nimmt, kaum hat man sich hingelegt.

Kaum ist Violene eingeschlafen, hebt Schocker den Kopf.
Langsam und genau sieht er sich noch einmal um, bevor er zu Violene geht, sich neben sie legt und beschützend seinen Flügel über sie. Wachsam, aufpassend.





Hey, danke dir fürs lesen :p
Ich hoffe, das Kapitel hat dir gefallen. Zeig es mir doch gerne mit einer Rückmeldung durch Votes und Kommis – Geisterleser kriege ich leider nicht wirklich mit 🥺😅

Schatten der Vergangenheit (Httyd)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt