2. Partyschmuck und Prophezeiungen

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„Reichst du mir bitte die Lichterkette?". Ich streckte eine Hand aus, während ich auf einem Stuhl vor der riesigen Fensterfront des Wintergartens balancierte, um die Partydekoration anzubringen. Es war einer dieser edlen Stühle im Jugendstil aus Metall mit verschnörkelten Verzierungen, auf welchem vermutlich einst ein reicher Lord seinen Mittagstee genossen hatte.

Meine Mutter hatte eine Schwäche für antike Möbel und wenn sie gesehen hätte, wie ich nun mit meinen schmutzigen Stiefeln auf einer ihrer kostbaren Schätze herumhampelte, wäre sie in Ohnmacht gefallen.

„Es wäre bloß ein klitzekleiner Gefallen, Winnie", sagte Ellie und legte die Kette in meine geöffnete Handfläche. Ich wandte mich ihr zu und verdrehte die Augen, als sie ihren Kopf ein wenig zur Seite neigte, ihre hellblauen Kulleraugen weit aufriss und auf entzückende Weise ihre Unterlippe nach vorn schob. Ihre Hände schloss sie zu einer bittenden Geste zusammen. „Bittebittebitte", flehte sie.

Ich stöhnte laut auf und gab mich geschlagen. Niemand konnte Ellie jemals etwas abschlagen und ich schon gar nicht. „Also schön". Ich seufzte. „Aber wenn irgendetwas schief geht und du erwischt wirst, hatte ich nichts mit dieser Sache zu tun".

Ellie gab ein Quietschen von sich, sprang auf mich zu und schlang ihre Arme um meine Beine, da ich noch immer auf dem Stuhl stand und mein bestes tat, um diese blöde Lichterkette aufzuhängen. „Dankedankedanke", hauchte sie und presste ihr Gesicht in meine Kniekehlen. Der Abend war bereits weit vorangeschritten und meine ganze Familie war vollauf mit den Geburtstagsvorbereitungen beschäftigt. Ellie und ich waren die einzigen, die sich momentan in unserem Haus aufhielten – wobei man unser Zuhause vermutlich nicht als „Haus" bezeichnen konnte. Wir lebten in einer beeindruckenden Villa am Stadtrand, nicht weit entfernt von dem Amt der Weltenwandler. Mein Ururururgroßvater Augustus hatte sie einst erbauen lassen und seither war sie in jeder Generation von meiner Familie bewohnt worden. Das alte Gemäuer war mit der Zeit etwas heruntergekommen und rissig und wilder Efeu rankte über die ockergelbe Fassade, doch es war noch immer imposant und stattlich. Auf dem schwarzen Mansardendach thronten tierische Figuren aus weißem Stein; Hähne, Katzen und ein riesiger Löwe mit wallender Mähne und weit aufgerissenem Maul, der als Giebelschmuck diente. Die Dachfenster waren allesamt Erker, deren Rahmen verschnörkelte Verzierungen schmückten. Die Fassade hingegen zierte bodentiefe Sprossenfenster im Landhausstil. Es gab insgesamt fünf Balkone und sogar einen kleinen Turm.

Vor einem Jahr, zu meinem achtzehnten Geburtstag, hatte mein Vater die alten, verwaisten Zimmer unter dem Dach zu einem gemütlichen Apartment umbauen lassen, so dass ich nun eine eigene Wohnung besaß. Ellie war ein Jahr jünger als ich und lebte zusammen mit meiner Tante Lennoa in der Wohnung unter mir. Im Gegensatz zu mir, konnte Ellie leider nicht auf ein eigenes Apartment hoffen, da sie eine Woche nach ihrem achtzehnten Geburtstag die Menschenwelt verlassen und fortan in Yrvat im Königreich der Lichtwesen leben würde. Dies war ihr seit ihrer Geburt vorherbestimmt.

Sie würde den Prinzen der Lichtfeen ehelichen und somit einen uralten Fluch brechen, der über der Feenwelt lag. Mein Gedächtnis war in dieser Hinsicht wie ein Sieb und ich hatte mir den genauen Wortlaut noch nie merken können, doch es gab eine Prophezeiung, die besagte, dass ein Kind, welches im Staub geboren und von der Sonne geküsst wurde, dem königlichen Nachkommen die Hand reichen und somit der welkenden Krone zu neuem Glanz verhelfen würde. Ich hatte noch nie verstanden, wieso ausgerechnet Ellie die Auserkorene war und nicht irgendein anderes Menschenmädchen, doch ich wusste, dass es mit unserer Familie und dem Blut, welches durch unsere Adern floss, zusammenhing. Als ich noch viel jünger und neugieriger gewesen war, hatte ich meine Verwandten häufig nach der Prophezeiung und unserer Geschichte gefragt, doch ärgerlicherweise drückten Feen sich meistens nur sehr vage und in bescheuerten Rätseln aus. Ich beneidete Ellie nicht um ihr Schicksal. Ich bedauerte, dass es ihr niemals gestattet sein würde, ein eigenes, selbstbestimmtes Leben zu führen. Sie war dem Prinzen der Lichtfeen noch nie begegnet und mit einem Fremden verlobt. Als Ellie und ich noch Kinder gewesen waren, hatten wir oft nachts wachgelegen und überlegt, wie der Prinz wohl sein würde. Wir hatten uns einen wunderschönen, anmutigen Jungen ausgemalt, der liebevoll und großherzig sein würde, doch es waren am Ende bloß die träumerischen Schwärmereien kleiner Mädchen gewesen, denen die Tragweite dieses arrangierten Verlöbnisses noch nicht bewusst gewesen waren.

Natürlich war Ellie pflichtbewusst und sie schien ihr Schicksal besser anzunehmen, als ich es vermutlich an ihrer Stelle getan hätte. Sie wusste, dass sie mit dieser Ehe die Feenwelt retten würde und selbstlos, wie sie war, fügte sie sich.

„Ich werde heute Nacht verschwinden, wenn alle in ihren Betten sind", erklärte sie mir nun. Ich kletterte umständlich von dem Stuhl herunter, stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete mein Werk missmutig. Handwerkliches Geschick war eindeutig nicht meine Stärke. Die Lichterkette hing traurig von dem Holzbalken herunter, wie eine träge, dicke Schlange, die gerade eine Maus verspeist hatte. Ich warf Ellie einen kurzen Blick zu und sie schien die Zweifel zu bemerken, die sich auf meinen Gesichtszügen widerspiegelten, denn sie eilte unvermittelt auf mich zu und griff nach meinen Händen. „Ich verspreche dir, dass ich bis morgen Abend zu meiner Geburtstagsfeier zurück sein werde", ihr Blick war offen und aufrichtig. „Niemand wird mein Verschwinden bemerken. Du musst lediglich dafür sorgen, dass niemand nach mir sieht. Sag ihnen, ich hätte eine üble Magenverstimmung".

Ich zögerte einen kurzen Moment lang. Ich wusste, dass es ungerecht von mir sein würde, ihr diese eine Bitte auszuschlagen. Sie wollte nichts weiter, als noch ein letztes Mal das Lichterfest zu besuchen, welches in unserer Stadt jährlich gefeiert wurde. Fünftausend bunte Laternen, die die Häuser und Straßen zierten, während alle anderen Lichter abgeschaltet wurden. Es war ein wunderschönes Bild und eine unvergleichliche Erfahrung. Ellie würde in einer Woche nach Yrvat gehen und vielleicht würden es ihr die königlichen Pflichten unmöglich machen, die Menschenwelt noch einmal zu besuchen. Vielleicht würde ich sie nie wieder sehen. Der Gedanke schmerzte. Ich betrachtete ihr schönes, elfengleiches Gesicht. Die großen, blauen Augen und ihre feinen, hellblonden Haare.

Ich drückte ihre Hände. „Du kannst dich auf mich verlassen. Dein Geheimnis ist bei mir sicher".

Sie lächelte. „Danke", sagte sie noch einmal. Der winzige, friedliche Moment der Verbundenheit fand ein jähes Ende, als wir plötzlich die schrille Stimme unserer Großmutter aus der Eingangshalle hörten. Scheinbar hatte mein Vater sie schon jetzt aus Yrvat abgeholt, denn ursprünglich hatte sie erst in der Nacht anreisen wollen. Ellie verdrehte die Augen, doch sie grinste breit. „Na los, Winnie", sagte sie und zwinkerte mir verschwörerisch zu. „Auf ins Chaos".

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