8. Einen Versuch ist es wert

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Ohne nachzudenken, eilte ich durch das Zimmer und stürzte zum Fenster. Ich schob die schweren, samtgrünen Vorhänge zur Seite. Es war mitten in der Nacht und vor mir erstreckte sich ein riesiges, mittelalterliches Dorf.

Vollbeladene Karren, die von mürrisch dreinblickenden Bauern gezogen wurden, deren spitze Ohren unter breitkrempigen Mützen halb verborgen waren, fuhren durch die matschigen, holprigen Straßen. Vor einer heruntergekommenen Schenke tummelten sich zwielichtige Wesen; Bettler in lumpiger Kleidung, die in den schmutzigen Gräben saßen, streckten ihre geöffneten Handflächen aus. Meine Augen wanderten über die Spitzdächer, der dicht aneinander gebauten Fachwerkhäuser, zu einem Fluss, dessen rauschendes Wasser in dem satten, gelben Mondschein glänzte, wie schwarzer Onyx. Ruckelnde Pferdekutschen fuhren über die unebenen Pflastersteine der breiten Brücke, die über den Fluss führte. Das stete Schlagen von Metall ertönte von einer Schmiede unter mir. Ein muskelbepackter Zwerg mit Augenklappe und langem, rotem Bart schlug mit einem breiten Hammer auf einen Amboss ein. Was er gerade herstellte, konnte ich nicht erkennen. Er fuhr sich mit dem Unterarm über die schweißnasse Stirn. Hinter ihm glomm ein sengendes Feuer in dem riesigen Schmiedeofen.

Von irgendwoher erklangen die schrillen Töne einer Fiedel und ich drehte den Kopf ein wenig, um eine Gruppe Feen zu betrachten, die sich auf einem schmalen Platz zusammengefunden hatten, ihre Krüge schwangen und wild tanzten.

Ich schloss einen kurzen Moment die Augen und atmete tief durch. Jetzt oder nie. Wenn ich lebend aus dieser Sache herauskommen wollte, musste ich schleunigst aus dieser merkwürdigen Jagdhütte verschwinden.

Das Vordach unter mir sah einigermaßen stabil aus. Ich sah an mir herunter. Meine Stilettos hatte ich irgendwo zwischen meinem zu Hause und Yrvat verloren. Ich war barfuß und das bodenlange Chiffonkleid könnte mir bei meiner Flucht hinderlich werden. Ich überlegte nicht lange. Kurzerhand bückte ich mich, griff nach dem Saum des Kleides und zerriss den zarten Stoff bis zu meinen Knien. Die Fetzten ließ ich unachtsam auf den Boden gleiten.

Ein Jammer um das schöne Kleid, welches ich wochenlang sehnsüchtig im Schaufenster einer kleinen Boutique betrachtet hatte, wann immer Ellie und ich shoppen gewesen waren. Sie hatte über mich gelacht und mich schließlich dazu überredet, es zu kaufen. Es war nicht so, dass meine Familie nicht wohlhabend war, doch seit meinem achtzehnten Geburtstag vor einem Jahr, hatte ich unabhängig sein wollen; was auch das Geld mit einbezog, welches ich von meiner Familie ablehnte und stattdessen nur von dem lebte, welches ich im Amt der Weltenwandler verdiente.

Meine Atmung beschleunigte sich und mein Herz raste, während ich angestrengt darauf lauschte, ob ein Geräusch vor der Tür die Rückkehr meines Entführers ankündigte – doch es blieb still. Ich musste mich beeilen.

Eine Waffe. Ich brauchte dringend eine Waffe.

Von den wenigen Dingen, die ich über die Lichtwelt gelernt hatte, war mir eines ganz besonders in Erinnerung geblieben – diese Welt war für Menschen überaus gefährlich. Schon mein Großvater hatte Ellie und mich stets vor den vielen Wesen gewarnt, die es kaum erwarten konnten, ihre spitzen Zähne in die Haut eines Menschen zu bohren. Oger, die Menschen zum Frühstück verspeisten; Ghule, die es kaum erwarten konnten verirrte Seelen auf die falsche Fährte zu locken, um sie dann zu verschlingen; verschlagene Kobolde, denen es diebische Freude bereitete, den Menschen Streiche zu spielen und ihnen Schaden zuzufügen; Feen, die wunderschön waren und dir die Liebe versprachen, dich doch ebenso hinterlistig mit ihren Früchten und Worten verzauberten.

Ich griff nach einem spitzen Schürhaken, der an einer Wandhalterung neben dem Kamin hing. Ich betrachtete ihn stirnrunzelnd, doch dann zuckte ich mit den Schultern. Es war besser als nichts.

Mit meinem zerrissenen Kleid, vollkommen barfuß und dem Schürhaken bewaffnet drückte ich mich durch das schmale Fenster nach draußen und landete auf dem Vordach.

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