3. Dicke Katze im Zylinder

9 3 0
                                    

Ellie und ich verließen den festlich geschmückten Wintergarten und betraten die Eingangshalle, in der uns bereits die ganze Familie erwartete. Mein Vater war gerade damit beschäftigt, meiner Großmutter aus ihrem hellblauen Kaschmirmantel herauszuhelfen, als sie ihren Kopf hob und uns bemerkte. Ihre moosgrünen Augen wanderten abschätzig an unserer Kleidung herab und ich wappnete mich innerlich gegen ihren ersten Angriff. „Ach, Friedelman", seufzte sie schwer. „Wieso gestattest du den Mädchen, sich derart gewöhnlich zu kleiden?".

Mein Vater tauschte einen vielsagenden Blick mit mir und verdrehte die Augen, in dem Wissen, dass meine Großmutter es nicht bemerkte. „Fred. Mutter...", erwiderte er genervt. „Ich heiße Fred".
„Pah!", stieß sie aus und machte eine wegwerfende Geste mit der Hand. „Ich habe dir nicht ohne Grund den Namen Friedelman gegeben". Natürlich nicht, dachte ich. Immerhin hatte sie ihren Kindern schon von Geburt an das Leben zur Hölle machen müssen.
Großmutter Dyola war eine uralte Fee.

Rein äußerlich gesehen, war sie jedoch nicht älter als Ende dreißig. Sie hatte rabenschwarzes, glattes Haar, welches in einem scharfen Kontrast zu ihrer reinen Alabasterhaut stand und üppige, weibliche Rundungen. Sie gehörte nicht zu der Sorte Fee, die keinen blassen Schimmer davon hatte, wie es in der Menschenwelt zuging. Sie war stets außerordentlich elegant gekleidet und von erlesener Schönheit, doch sie war bösartig und gemein und ihre Besuche waren meist ein wahrgewordener Albtraum.

Ich hatte die leise Theorie, dass sie ihre Nächte kopfüber an Deckenbalken verbrachte und sich von dem Blut ihrer Feinde nährte, die mit großer Sicherheit vielzählig waren.

Ellie und ich hatten sie niemals „Großmutter" nennen dürfen, da sie sich dadurch wie eine alte Frau fühlte, wie sie uns einmal gesagt hatte. Stattdessen nannten wir sie bloß „Didi". In einem kindlichen Anflug von Trotz hatte ich ihr mit neun Jahren einmal an den Kopf geworfen, dass ich mich an ihrer Stelle ebenfalls alt fühlen würde, wenn ich schon eine halbe Trillion Jahre alt wäre. Danach hatte sie mich etwa ein halbes Jahr lang vollkommen ignoriert und kein einziges Wort mit mir gewechselt. Es war die schönste Zeit meines Lebens gewesen.

Ellie und ich traten nun höflich vor und hauchten ihr leichte Küsse auf die rosigen Wangen. Didi roch nach einer angenehmen Mischung aus Lavendel und Minze.
„Antonia, lass dich ansehen!", rief meine Großmutter, nachdem sie uns mit einer ungeduldigen Handbewegung davongescheucht hatte und streckte die Hände nach meiner Mutter aus, die sich von ihr in eine feste Umarmung ziehen ließ. „Du siehst bezaubernd aus", sagte sie, für ihre Verhältnisse beinahe warmherzig. Meinem Großvater Julius und seiner Frau Adele, die für mich und Ellie mehr Großmutter gewesen war, als Didi es je hätte sein können, schenkte sie ein knappes Nicken.

„Ich hoffe, deine Reise war angenehm, Mutter", sagte meine Tante Lennoa, die ihr ebenfalls einen Kuss gab.

„Ich schätze angenehmer, als es mein Aufenthalt hier sein wird", entgegnete Didi und ließ ihren Blick durch die Eingangshalle schweifen. Als ich bemerkte, wie sie angewidert die Nase rümpfte, lächelte ich. „Scheinbar beginnt nun Phase Zwei ihres Angriffs: Kritik an Mobiliar und Putzverhalten", flüsterte ich Ellie zu, die sich sofort eine Hand vor den Mund schlug, um ihr Kichern zu unterdrücken.

Didis Augen wanderten über den cremefarbenen, glänzenden Marmorboden und die breite Wendeltreppe aus dunklem Mahagoni. Sie fuhr mit einem Finger über das Treppengeländer und betrachtete anschließend enttäuscht ihre Fingerkuppe. Ich unterdrückte einen grimmigen Jubel. Wir hatten uns auf ihren Besuch eingestellt und meine Mutter, Tante Lennoa und meine Großmutter Adele hatten tagelang das Haus geputzt, ausrangierte Möbel entsorgt und kleinere Reparaturen durchgeführt.

„Ah!", stieß Didi plötzlich aus und legte sich erschrocken eine Hand an die Brust. „Was ist das denn, um Gottes Willen?". Wir alle folgten ihrem Blick zu dem riesigen Gemälde an der Wand, auf welches sie voller Entsetzen starrte.

Lennoa war Künstlerin. Sie hatte Kunst studiert und einige Jahre im Ausland verbracht, wo sie durch Museen gestreift war und nach Inspiration gesucht hatte. Sie war überaus begabt und ich kannte niemanden sonst, der so wunderschön malen konnte. Als ich noch klein gewesen war, hatte sie mir kleine Comicstrips gezeichnet, in denen ich die Hauptrolle gespielt hatte. „Winnies wilde Abenteuer", hatte Lennoa sie genannt. Nachdem ihre besten Jahre als Künstlerin vorüber gewesen waren und ihre letzte Ausstellung von Kritikern in der Fachpresse zerfleischt worden war, hatte sie einen Nervenzusammenbruch erlitten und sich auf einen Selbstfindungstrip nach Papua-Neuguinea begeben, wo sie vermutlich mit halluzinogenen Pilzen in Berührung gekommen war; denn als sie nach Hause zurückgekehrt war, hatte sie nur noch davon gesprochen, wie sehr ihr die Augen geöffnet worden waren und dass sie sich von nun an nicht mehr an gesellschaftliche Zwänge halte und das tue, worauf sie Lust habe. Wie oft hatte ich mir ihre Reden über das Patriarchat anhören müssen, was eine Ironie war, wo sie doch ihre eigene Tochter in eine arrangierte Ehe gehen ließ.

„Das ist eines meiner neuesten Werke, Mutter", erklärte meine Tante lächelnd. Sie hatte genau wie Ellie hellblondes, feines Haar und dieselbe elfengleiche Erscheinung, doch ihre Augen waren moosgrün, wie die meiner Großmutter. „Gefällt es dir?".

Ich unterdrückte ein Lachen.

Das Gemälde zierte einen pausbäckigen, rotgetigerten Kater, der es sich in einem schwarzen Hut gemütlich gemacht hatte. Meine Großmutter verabscheute es, ohne Zweifel.

„Es heißt: Dicke Katze im Zylinder", redete Lennoa weiter, während alle anderen betreten vor sich hin schwiegen. Didi warf noch einen letzten Blick auf den gutgenährten Kater, dann räusperte sie sich und tätschelte meiner Tante die Schulter, was in ihrem Fall besonders herablassend wirkte. „Ich finde es grässlich, meine Liebe", erklärte sie. „Aber du hast so viele andere Talente. Ein Glück, dass du nicht auf die Kunst angewiesen bist und von dem Geld deiner Familie leben kannst".

Sie drängte sich an meiner Tante vorbei in den Speisesaal und wandte sich noch ein letztes Mal um. Der Ausdruck in ihrem Gesicht war ungeduldig. „Kommt ihr?", fragte sie. „Ich habe eine anstrengende Reise hinter mir und bin überaus hungrig".

Wir folgten ihr brav und quälten uns durch das Abendessen hindurch. Das eisige Schweigen wurde lediglich von den kleinen Spitzen meiner Großmutter unterbrochen, die sie überaus gern verteilte. Normalerweise waren die Abendessen unserer Familie fröhlich. Wir redeten ununterbrochen, erzählten uns gegenseitig von unserem Tag oder gaben witzige Anekdoten zum Besten. Es war warmherzig und liebevoll.

Mit Großmutter Didi hingegen, war es wie auf einem Schlachtfeld: Niemand wusste, wann und wo die nächste Bombe hochgehen würde. Mit einer genuschelten Entschuldigung verließ ich den Tisch, nachdem sie mich gefragt hatte, ob es in der Menschenwelt nun üblich sei, seine Haare zu tragen, wie ein verlotterter Herumtreiber. Als ich den Speisesaal verließ, hörte ich meinen Großvater noch sagen: „Winnie arbeitet doch so viel, Didi. Sei ein wenig nachsichtiger mit ihr".

„Ich habe zwei wunderschöne Enkeltöchter und es ist wohl nicht zu viel verlangt, wenn ich von ihnen erwarte, dass sie etwas aus sich machen. Sieh dir Ellie an. Sie sieht stets ganz zauberhaft aus". Ich wandte mich ab und schmunzelte, in dem Wissen, dass meine Cousine sich gerade auf ihrem Platz sehr unwohl fühlte. Sie konnte nur schlecht mit Komplimenten umgehen.

Ich stieg die Treppen zu meinem Apartment hoch und als ich mich einige Minuten später in der Arbeitskleidung, die ich noch immer trug, auf mein Bett gleiten ließ und mir sofort die Augen zufielen, galten meine Gedanken meiner Cousine, die sich in wenigen Stunden aus der Villa schleichen und ihr letztes Lichterfest erleben würde, bevor sie für immer in die Welt der Feen verschwand.

Lichtwelt Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt