5. Schönheitspflästerchen und Abschiedsbriefe

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Ich verschwendete keine weiteren Gedanken an das flüchtige Wesen, welches sich illegalen Zutritt zur Menschenwelt verschafft hatte, als ich das Amt der Weltenwandler verließ und nach Hause eilte. Dicke Regentropfen prasselten auf mich ein und ich zog mir die Kapuze über den Kopf, während ich durch die Textnachrichten scrollte, die mir mein Vater, meine Mutter, mein Großvater und meine Tante auf dem Handy hinterlassen hatten. Der Bürgersteig war voller Menschen, die ich im Vorbeigehen streifte und anrempelte. Ich machte mir kaum die Mühe aufzusehen und eine Entschuldigung zu nuscheln, da allmählich Panik in mir aufkeimte.

Ich sorgte mich um meine Cousine. Es sah ihr überhaupt nicht ähnlich, nicht nach Hause zu kommen. Sie hatte auf keine meiner Nachrichten reagiert und soweit ich es aus den hysterischen Mails meiner Tante entnommen hatte, war sie auch zu keinem ihrer Termine erschienen.

Ich wählte eine Nummer und klemmte mir das Telefon zwischen Schulter und Ohr. Ein Auto blieb schlitternd stehen und der Fahrer hupte erbost, als ich die Straße überquerte, ohne auf den Verkehr zu achten. Ich hob entschuldigend eine Hand und lauschte auf das Freizeichen. „Komm schon, Ellie. Nimm ab!", sagte ich drängend, doch nach wenigen Sekunden erklang bloß ihre Mailbox.

„Wo, zum Teufel, steckst du?", redete ich los. „Wir machen uns große Sorgen um dich. Es ist schon spät und niemand hat auch nur ein Lebenszeichen von dir erhalten. Bitte ruf mich zurück". Ich wollte bereits wieder auflegen, doch dann zögerte ich. Ellie hatte mir versprochen, dass sie am Abend wieder zu Hause sein würde. Sie hatte noch niemals ein Versprechen gebrochen. „Ich werde dir Rückendeckung geben, so gut ich kann, aber bitte melde dich bei mir. Ich habe dich lieb". Dann legte ich auf.

Ich betrat die große Villa nicht durch den Haupteingang, sondern über den Keller, wie meine Großmutter Didi es mir am Abend zuvor noch eingetrichtert hatte. „Die Gäste werden bereits im Salon sein und was sollen sie denken, wenn sie dich in deiner gewöhnlichen Kleidung sehen?".

Ich achtete darauf, niemandem zu begegnen, als ich mich an den Gästen vorbei schlich und die Treppen heraufeilte. Meine Tante Lennoa erwartete mich bereits vor der Tür zu meinem Apartment. „Winnie, Gott sei Dank!", stieß sie aus und ergriff meine Hände, die sie fest drückte. „Nur Ellie hat einen Ersatzschlüssel und ich weiß nicht, wo sie ihn versteckt".

Als mein Vater mir das Apartment geschenkt hatte, hatte er meine Privatsphäre respektieren wollen und mir die Entscheidung überlassen, wem ich meinen Ersatzschlüssel gab. Ich hatte mich für meine Cousine entschieden.

Tante Lennoa trug ein kurzes, silbernes Cocktailkleid mit Spitze, in dem sie ganz fabelhaft aussah. Ihr hellblondes Haar hatte sie zu einer kunstvollen Hochsteckfrisur geformt und ihre Augen waren vorteilhaft geschminkt, so dass die moosgrüne Farbe darin, wunderbar zur Geltung kam.

„Ich werde nach Ellie sehen und ihr beim Ankleiden helfen", sagte ich nachdrücklich, während ich ihren Händedruck erwiderte.

Meine Tante schüttelte den Kopf. „Niemand hat Ellie erreichen können. Wir haben gegen die Tür geklopft und nach ihr gerufen, doch sie hat nicht reagiert!". Als ich die aufrichtige Sorge in ihrem Blick sah, nagten sofort Gewissensbisse an mir.

„Ich habe vorhin mit ihr telefoniert", log ich. „Es geht ihr schon besser". Ich musste Ellie dringend noch ein wenig Zeit verschaffen. Wo auch immer sie sich aufhielt, niemand durfte erfahren, dass sie seit letzter Nacht nicht mehr zu Hause gewesen war – vor allem nicht Didi.

„Ich verstehe nicht, wieso sie meine Anrufe nicht beantwortet hat. Sie weiß, dass ich mir Sorgen mache". Tante Lennoa fuhr sich mit fahrigen Fingern über die Stirn. Sie tat mir leid und ich musste all meine Selbstbeherrschung aufbringen, nicht mit der Wahrheit herauszuplatzen, doch ich hatte es Ellie versprochen.

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