9. Kühe und Flöten

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Meine Haare waren noch immer ein wenig feucht, als ich aus der winzigen Badekammer heraustrat und in das Zimmer zurückkehrte. Es war eine vollkommen neue Erfahrung für mich gewesen, zur Abwechslung mal in einem Holzzuber zu baden, anstelle einer komfortablen Wanne mit Massagedüsen und Kopfstütze. Allmählich fühlte ich mich, wie eine verwöhnte Großstadt-Göre in einer Reality TV-Serie, deren verdorbener Charakter durch ein zweiwöchiges Leben in einem primitiven und rustikalen Landhaus bereinigt werden sollte.

Mein Gefühl verstärkte sich, als ich die Kleidung entdeckte, die für mich sorgfältig zurechtgelegt, auf dem Bett hinterlassen worden war. Stirnrunzelnd faltete ich sie auseinander. Das Unterkleid war aus einem feinen, weißen Stoff und knöchellang. Das Oberkleid war khakifarben, mit breiten Puffärmeln und einem Korsett.

Ich seufzte ergeben und zog mich an.

Ich hatte keine andere Wahl. Das wundervolle Abendkleid, welches ich zuvor getragen hatte, war starr vor Dreck und Tierexkrementen – es stank bestialisch und war vollkommen ruiniert.

Nachdem ich das Oberkleid übergezogen und das Korsett locker verschnürt hatte, wandte ich mich den Schuhen zu. Es waren hellbraune Stiefel, die merkwürdigerweise gar nicht so unbequem waren, wie sie zunächst ausgesehen hatten.

Ich hatte beschlossen, vorerst keinen erneuten Fluchtversuch zu wagen. Es war eine überaus dumme und impulsive Entscheidung gewesen, aus dem Fenster zu klettern und durch ein Dorf zu fliehen, welches mir völlig fremd war. Diese Welt war voller finsterer Wesen, die meinen Tod wollten und es wäre reiner Selbstmord, mich allein und unvorbereitet, auf die Suche nach dem Portal zu begeben.

Aus diesem Grund war, während meines ausgiebigen Bads, ein neuer Plan in meinem Kopf herangereift.

Wer auch immer Callan war und was auch immer er wollte, er würde mich nicht ewig in diesem Zimmer einsperren. Sobald wir dieses Gasthaus, welches ich für eine Jagdhütte gehalten hatte, verließen, würde ich mich bei der ersten, sich bietenden Gelegenheit an einen Soldaten wenden. Es erschien mir logisch.

Ich war zwar nur ein Mensch und in den Augen übernatürlicher Wesen nicht mehr als eine Stubenfliege mit begrenzter Lebenszeit, doch ich war eine Hüterin und die Cousine der zukünftigen Prinzessin von Yrvat – dies musste doch etwas bedeuten. Die Soldaten des Königshauses waren im ganzen Land stationiert, also musste es nur eine Frage der Zeit sein, bis wir einem von ihnen begegneten.

Ein Geräusch vor der Tür ließ mich aufhorchen. Ich griff unvermittelt nach dem Schürhaken, den ich aus unerklärlichen Gründen nicht in der dunklen Gasse zurückgelassen hatte. Die Tür öffnete sich und Callan trat ein. In einer Hand hielt er ein dreckiges Bündel und als er aufsah und sich unsere Blicke trafen, glaubte ich so etwas wie Belustigung in seinen goldenen Augen aufblitzen zu sehen. Er runzelte die Stirn und deutete mit seiner freien Hand auf die provisorische Waffe, die ich noch immer fest umklammerte. „Sei vorsichtig damit. Nicht, dass jemand noch ein Auge verliert".

Ich legte den Schürhaken beiseite und rekte das Kinn trotzig vor. „Du hättest ruhig anklopfen können", erwiderte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich fühlte mich unwohl in dem Kleid, dessen Ausschnitt für mein Empfinden viel zu tief war. „Ich habe mich gerade eben erst angekleidet".

Callan zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Nichts, was ich nicht schonmal gesehen hätte". Er durchquerte den Raum und legte das Bündel auf einen kleinen Beistelltisch, der neben dem Kamin stand. „Ich habe dir etwas zu essen mitgebracht". Er faltete den Stoff auseinander und darunter kam ein Laib Brot und Käse zum Vorschein. Mein Magen knurrte und mir lief das Wasser im Mund zusammen, nicht weil dies mein Leibgericht war, sondern weil ich tatsächlich schrecklichen Hunger hatte. Meine letzte Mahlzeit war eine gefühlte Ewigkeit her. Ich straffte die Schultern und erwiderte, auch wenn alles in mir sich dagegen sträubte. „Nein, danke".

Callan hob eine Augenbraue in die Höhe, was wohl die bevorzugte Reaktion des unglaublich breitgefächerten Repertoires seines Mienenspiels war. „Iss etwas, Mädchen".

Ich schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht dumm. Ich kenne die Geschichten über eure verzauberten Früchte".

„Sehe ich für dich etwa aus, wie einer dieser Flöte spielenden Fee-Idioten da draußen?".

Ups. Anscheinend hatte ich mit meinen Anschuldigungen einen wunden Nerv getroffen. Ich musste schon zugeben, dass es mich schwer gewundert hätte, wenn er Flöte spielte. Ich zuckte mit den Schultern. Was erwartete er von mir? Er hatte mich schließlich entführt und auch wenn er mir vor ein paar Stunden das Leben gerettet hatte, so war es doch irgendwie seine Schuld, dass es überhaupt dazu gekommen war.

„Wenn ich dich zu irgendetwas zwingen wollen würde, gäbe es andere Mittel und Wege, glaub mir". Meine Augen wanderten über sein Gesicht. Die breite, rosa Narbe, die harten Gesichtszüge und dieser bittere Zug um seinen Mund herum. Ich glaubte ihm. Er war ein Krieger.

Ich trat zu dem Tisch, sorgsam darauf bedacht ihm nicht zu nahe zu kommen und griff nach dem Brot. Nach den ersten Bissen begann ich das Essen beinahe herunterzuschlingen. Ich war so hungrig, dass ich den Käse und das Brot in meinen Mund stopfte und laut schmatzend kaute, wie eine Kuh. Wenn sie es nicht schon vorher getan hätte, dann hätte Großmutter Dyola spätestens jetzt den Kontakt zu mir abgebrochen.

Das Essen wurde in meinem Mund zu einer trockenen Pampe. Callan, beobachtete mich mit steinerner Miene. Er ließ sich auf einen Stuhl sinken und schob mir über den Tisch hinweg einen Krug zu. Ich griff danach und trank das Wasser in großen Schlucken. Er ließ mich nicht aus den Augen. Als ich schließlich den leeren Krug abstellte und mir unappetitlich mit dem Ärmel über den Mund fuhr, hatte er sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt.

„Da ich dich scheinbar nicht allein lassen kann, wirst du mit mir kommen", erklärte er.

„Wohin?". Ich versuchte die aufsteigende Freude zu unterdrücken, die mich erfasste. Vielleicht kam ich doch schneller aus der Sache heraus, als ich angenommen hatte. Ich hatte damit gerechnet, Callan würde mich mindestens noch ein paar Tage in diesem Zimmer gefangen halten und ich müsste mir einen Plan ausdenken, um sein Vertrauen zumindest so weit zu gewinnen, dass er mir erlaubte, mit ihm hinauszugehen.

„Zu einem Treffen in der Schenke". Er erhob sich von dem Stuhl, geschmeidig wie ein Tiger. Seine goldenen Augen loderten, als er sie zu mir herabsenkte. „Du wirst mir gehorchen", sagte er und seine tiefe Stimme war beinahe ein Knurren.

Ich verbarg meine Begeisterung und nickte unterwürfig. Ich durfte mich nun unter keinen Umständen verraten. Eine Schenke war perfekt. Alkohol und viele Gäste – zu denen mit Sicherheit auch Soldaten zählten. Callan beugte sich ein wenig vor. Nun sah ich zum ersten Mal die Andeutung eines düsteren Lächelns auf seinen Lippen. „Ich habe dich übrigens mit einem Zauber belegt. Jedes Mal, wenn du versuchst um Hilfe zu bitten, wirst du stattdessen eines deiner Geheimnisse preisgeben".

Meine Vorfreude verwandelte sich innerhalb eines Wimpernschlags zu einem Gefühl des Grauens. Ob Callan wusste, dass er soeben meinen Plan vereitelt hatte? Ich unterdrückte ein Fluchen. Dahin war mein Plan.

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