Prolog

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Ich höre die Bassstimme meines biologischen Vaters und die schneidende Stimme meiner Mutter laut und deutlich bis in mein Zimmer. Lautlos stehe ich auf, schleiche zu meiner Tür.

"Dieses Balg verschwindet, ob du das willst oder nicht und du wirst nicht einen Fuß mehr aus diesem Haus setzen!" Das Brüllen des Mannes lässt den Boden unter meinen Füßen vibrieren.

Ich bin 11 Jahre alt und doch weiß ich, was zu tun ist und was passieren wird. Mama wird auf ihn losgehen und er wird nicht zögern, sie umzubringen.

Ich schleiche zu dem Wandschrank im Flur. Dort versteckt Mama eine Waffe. Ich habe sie einmal durch Zufall gefunden, aber nie etwas darüber gesagt, um keinen Verdacht zu erwecken. Vielleicht hätte Mama sie dann woanders versteckt und ich könnte nicht tun, was ich nun tun muss.

Vorsichtig öffne ich den Schrank, hole die Waffe hervor und schleiche weiter Richtung Wohnzimmer, von wo die Stimmen kommen. Ich stelle mich so, dass ich alles sehen kann, jedoch nicht gesehen werde. Aufmerksam verfolgen meine Augen das Geschehen.

Meine Mama stürmt mit einem Messer in der Hand auf meinen Erzeuger zu. Wie in Zeitlupe spielt sich das darauf Folgende ab. Der Mann hebt langsam seinen Arm, die Waffe entsichert er dabei. Langsam legt er seinen Finger auf den Abzug und zieht diesen nach hinten. Der laute Knall kommt verzögert bei mir an.

In meinem Kopf legt sich ein Schalter um. Automatisch und wie ferngesteuert, entsichere ich die Waffe, stelle mich in einen sicheren Stand. Ich hebe die Waffe an, ziele, schieße und treffe. Ein sauberer Kopfschuss.

Erst jetzt fallen mir die jungen Männer im Raum auf. Bei meinem Schuss haben sie sich ruckartig umgedreht und zielen nun mit ihren Waffen auf mich. Ich dagegen sichere die Waffe und gehe langsam auf den toten Mann zu. Mein Blick streift ihn kurz. "Fahr zur Hölle", murmle ich.

Langsam wende ich mich der Leiche meiner Mama zu. In Gedanken entschuldige ich mich bei ihr. Dafür, dass ich nicht früher geschossen habe. Ich hätte damit ihr Leben retten können. Doch ich war zu langsam. Einen Augenblick verweile ich, lasse meine Augen über ihren toten Körper gleiten. Ich spüre die Blicke der Männer auf mir, doch genau jetzt kümmert es mich nicht.

Nach einem Moment erhebe ich die Stimme. "Was wollt ihr?" Meine Stimme ist bestimmend, ich lasse mich nicht einschüchtern. Betont lässig und unbeirrt drehe ich mich in ihre Richtung. Sie alle sind größer als ich. Gut, das ist bei einem 11 Jahre alten Mädchen auch nicht schwer. Ich fixiere den größten und muskulösesten Jungen mit meinem Blick. Um genau zu sein, seine Augen. Meine braunen Augen dürften sehr dunkel sein und als sie auf seine Eisblauen treffen, sehe ich, wie sich seine Pupillen unmerklich weiten. Auch durch den ohrenbetäubenden Knall, als die Haustür eingetreten wird, bricht keiner von uns den Blickkontakt ab.

"Was ist denn hier los?" donnert eine Stimme durchs Haus. "Marc! Du und deine Jungs hattet eine Aufgabe: das Mädchen rausholen, bevor der Bastard an sie rankommt!" Aus den Augenwinkeln erkenne ich einen Mann, der ebenfalls groß und muskulös ist, jedoch älter als der Junge vor mir.

Der Ältere stockt. Er scheint überrascht mit den Augen über die Leichen zu wandern, bis sie schließlich bei mir hängen bleiben. "Hast du die beiden erschossen?" Seine Frage klingt drohend, doch ich ignoriere ihn weiterhin.

"Nur ihn." Auch wenn Marc seine Augen nicht von mir abwendet, antwortet er für mich. Seine Stimme klingt dunkel. Etwas Wildes, das sich auch in seinen Augen findet, schwingt in ihr. Leicht lege ich den Kopf zur Seite. und hebe bedacht langsam die Hand mit der Waffe. Bis auf ihn weichen alle schnell einen Schritt zurück. "Sie ist gesichert", murmelt er genervt. Dann wendet er sich wieder mir zu. "Wir sind wegen dir hier. Du bist doch Lias Tochter, oder?"

Langsam, nachdenklich nicke ich leicht. Seine Augen beginnen zu funkeln. Vorsichtig nimmt er mir die Waffe ab. "Irgendwann bekommst du sie wieder." Dann unterbricht er unser Blickduell und wendet sich seinem Vater zu. Auch meine Augen richten sich nun auf den Mann. Die Beiden sind wirklich wie Zwillinge. Nur das der Eine schon etwas von der Zeit gezeichnet ist. Seine Augen ruhen noch immer auf mir. Als sich unsere Blicke treffen, schmunzelt er leicht.

"Sie ist wie ihre Mutter. Wir nehmen dich mit, du gehörst jetzt zu uns. Ich bin Brian. Das ist mein Neffe Marc", damit deutet er auf den Jungen vor mir. Ungläubig ziehe ich kurz eine Augenbraue hoch. Neffe? Ich hätte auf Vater und Sohn geschworen. Als Antwort nicke ich nur leicht, bevor sich alle in Bewegung setzen. Wenigstens darf ich mir noch eine Jeans, einen Pulle, Socken, Jacke und Schuhe anziehen. Marc ist dabei immer in meiner Nähe.

Als wir das Haus verlassen und kurz vor dem Wagen sind, legt er sanft eine Hand an meinen Rücken. Er beugt sich leicht zu mir runter. "Du hast übrigens gewonnen." haucht er mir zu. Also war das Blickduell wirklich ein Duell und ich habe mir damit seinen Respekt verdient. Zumindest ansatzweise. "Alice. Mein Name ist Alice."

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