Silas und ich gehen die Treppen runter. Ich drehe mich nicht noch einmal um, sondern steige direkt in den Wagen, zu dem Silas mich dirigiert.
Abschiede habe ich schon immer gehasst. Ich habe nie wirklich gelernt mit ihnen umzugehen, also war meine Strategie sie zu vermeiden.
Der junge Mann, mein neuer 'Bodyguard', setzt sich auf den Fahrersitz und startet ohne Umschweife den Motor. Es wirkt fast, als wären wir auf der Flucht. "Du hast es ja wirklich eilig", murmle ich leise vor mich hin. Silas lacht auf, doch es ist ein tonloses Lachen. Etwas stört mich daran. Unauffällig mustere ich den Mann neben mir. Wie wird es jetzt weitergehen? Was sind die nächsten Schritte? Ich muss die Fragen nicht stellen. Während wir den Parkplatz unserer Klinik verlassen, beginnt er ganz von selbst zu reden.
"Wir werden umziehen. Ich habe schon alles vorbereitet. Und bevor du fragst: es geht nach Morvis." Entsetzt drehe ich ruckartig meinen Kopf zu ihm. "Morvis? Warum das denn?" Silas wirft mir einen kurzen Blick zu. "Zum einen ist Morvis weit genug weg von hier. Ich meine, es ist die andere Seite des Landes. Zum anderen", er legt eine kurze Pause ein und ich schließe meine Augen. Sag nicht das, was ich denke. Er räuspert sich. "Zum anderen gehört das ehemalige Haus deiner Eltern nun mir. Ich habe es damals auf Marcs Befehl gekauft. Und genau da werden wir auch wohnen."
Ich schlucke einmal schwer. In diesem Haus habe ich meinen biologischen Vater ermordet und mit angesehen, wie meine Mutter starb. Durch die Hand eines Mannes, der seine eigene Tochter loswerden wollte. Egal wie und was mit ihr passiert wäre. Was mit mir passiert wäre. "Silas, das kann doch nicht dein Ernst sein? Meinst du nicht, dass sie uns dort zuerst suchen werden?" Doch der Fahrer schüttelt nur leicht den Kopf. "Außer dem inneren Kreis und mir, weiß keiner, wer du bist Alice." Ein komisches Gefühl breitet sich in mir aus, als er meinen Namen nennt. Es entsteht eine Pause. "Aber ich werde nicht Alice sein, richtig?" Mein Blick gleitet wieder zu ihm. Er ist leer, die Emotionen verstecke ich alle in meinem Inneren. Zeig keine Schwäche.
Wieder schüttelt er leicht den Kopf. "Dann wäre es auffällig. Dein Name wird Marie sein. Marie Angermeyer. Und du wirst nichts tun, was unsere Tarnung gefährdet, ist das klar? Ich werde dich immer im Auge behalten." Seine Stimme macht eine Wandlung von tonlos zu streng. Er nimmt diesen Job sehr ernst. Vermutlich, weil er weiß, er würde sonst von Brian und Marc bestraft werden, wenn er das hier vermasselt. "Ja, ja, schon klar", murmle ich ihm entgegen. Mein Gesicht wende ich von ihm ab und schaue aus dem Fenster. Was denkt er sich nur dabei? Mein altes Elternhaus? Das kann nur in einer Katastrophe enden. "Wir werden in der Öffentlichkeit als Bruder und Schwester auftreten. Nur das du bescheid weisst." Geistesabwesend nicke ich. Warum musste Draco auftauchen? Er ist der Grund dafür, dass alles so eskaliert ist. Ein Seufzen gleitet mir über die Lippen.
"Hey, wir schaffen das schon. Und mit etwas Glück sehen wir unsere Familie bald wieder." Versucht er mich mit einem sanften Ton zu beruhigen oder aufzubauen. Was auch immer seine Intention ist, er schafft es nicht. Wieder bildet sich dieser Kloß in meinem Hals und Tränen wollen sie einen Weg an die Oberfläche bahnen. Doch ich schlucke alles runter. Ich darf es nicht zeigen. Nicht jetzt. Nicht hier.
"Sag mal", kommt mir da ein Gedanke und diesen spreche ich auch aus. "Hm?" ertönt es neben mir. "Was soll ich dann eigentlich mit meiner Freizeit anfangen, die ich habe?" Ich meine, ein leises Kichern zu hören, als ich die Frage stelle. Ein erwachsener Mann, breit wie ein Schrank und mindestens eine Größe von 1,90 Metern, bereit jeden zu töten, wenn er den Befehl bekommt, kichert. Diese absurde Vorstellung lässt mich schmunzeln. "Wie wäre es mit Uni?" Langsam drehe ich meinen Kopf wieder zu ihm. "Ich will ja nichts sagen Silas, aber du weisst, was das letzte Mal passiert ist, als ich in eine Lehranstalt gesteckt wurde?" Silas lacht auf. Kurz huscht sein Blick zu mir, bevor er sich wieder auf die Straße konzentriert. "Ich dachte eher an Fernbildung. So musst du nicht unter Menschen, womit wir schon einmal das Risiko senken, du hättest etwas zutun und ich kann dich besser im Auge behalten." Langsam lasse ich mir diese Gedanken durch den Kopf gehen. An und für sich hat er recht. Es wäre eine Abwechslung. Ich hätte einen Alltag. Und ich könnte mich verkriechen.
"Allerdings kann ich dich nicht von Menschen fernhalten. Du musst auch mal raus. Wenn es dir hilft, können wir das zusammen machen, bis du es dir alleine zutraust." Wüsste ich nicht, was genau er damit meint, hätte ich ihn für diese Aussage geschlagen. Gut für ihn, dass ich genau weiß, worauf er anspielt. Ich würde es nie zugeben, aber auch in diesem Punkt hat er recht. Und es gefällt mir ganz und gar nicht. Nachdenklich sinke ich tiefer in den Autositz. "Ich denke darüber nach." Mehr bekommt er als Antwort nicht. Das muss reichen.
Die Landschaft zieht an uns vorbei. Es ist noch mitten am Tag. Ein Blick auf die Uhr des Autos sagt mir, wir haben es kurz nach 12. Wieder entwischt mir ein Seufzen. Das wird eine lange Autofahrt. "Müssen wir noch irgendetwas besorgen?" Silas brummt neben mir. "Zum Leben nein. Unsere Sachen sind auch schon Vorort. Allerdings werden wir neue Technik brauchen. Aus Sicherheitsgründe habe ich die zurückgelassen."
Dieses eine Wort brennt sich in mein Gedächtnis. Zurückgelassen.
Mit diesem Umzug lasse ich alles zurück. Meine Familie. Mein Leben. Meine Heimat. Meine Freunde. Alles, was mich ausgemacht hat. Das heißt, theoretisch kann ich mich ganz neu erfinden. Eine andere Person werden. Ich schlucke. Will ich das überhaupt? Ich war glücklich Zuhause. Bei Brian und Marc. Wieder kommt dieser brennende Gedanke. Und ich wäre es immer noch, wenn Draco nicht aufgetaucht wäre. Was haben Brian und Marten sich dabei gedacht? Wut kocht in mir hoch. Mit Wut kann ich umgehen. "So eine Scheiße", murmle ich mehr zu mir selbst, als zu Silas. Plötzlich spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Aus Reflex will ich sie wegschlagen, werde mir aber der Situation im selben Moment bewusst und unterdrücke die Handlung. "Wir werden weiterhin trainieren. Wir brauchen das beide und außerdem weiß man nie, was kommt." Ich nicke stumm. Meine Augen sind noch immer auf die Landschaft gerichtet.
"Marie, du darfst auch ruhig mal schwach sein. Es ist niemand mehr da, vor dem du stark sein musst. Auch nicht vor mir." Wieder steigen mir die Tränen in die Augen. Ich versuche sie weg zu blinzeln, doch eine schafft es, sich aus meinen Augenwinkeln zu lösen und rollt mir über die Wange. Ich darf schwach sein. Aber ich will nicht schwach sein. Ich war nie schwach. Silas ist das bewusst. Wahrscheinlich hat er es genau deshalb gesagt. Er weiß, dass ich alles in mein rein fresse und es gezielt im Training raus lasse. Das war mein Ventil. Es ist komisch, dass er mich mit meinem neuen Namen anspricht, aber ich schätze, daran werde ich mich gewöhnen.
"Warum musste er auftauchen und alles kaputt machen?" Diese Frage ist nur ein Flüstern und eher an mich selbst gerichtet. "Wer?" Silas Stimme nimmt eine dunkle Farbe an. Es klingt fast, als wollte er jemanden töten. "Draco. Wär er nicht gewesen, wäre das alles nicht so eskaliert und es hätte sich nichts geändert." Ich höre, wie der Mann neben mir die Luft durch die Zähne zieht. Fragend drehe ich meinen Kopf zu ihm. "Was denn?" Sein Blick ist starr auf die Straße gerichtet. Nebenbei sehe ich, wie sich seine Finger um das Lenkrad verkrampfen. "Nichts. Aber er gehört der Vergangenheit an. Denk nicht mehr darüber nach." Unzufrieden drehe ich mein Gesicht wieder zum Fenster. Ich weiß, dass der junge Mann der Grund für all das ist, aber warum reagiert Silas so auf seinen Namen? Silas murmelt irgendwas auf russisch und konzentriert sich auf die Straße.
"Ich weiß ja, dass du lange gelegen hast und viel Zeit hattest", setzte er an. Ohje, was kommt denn jetzt noch? "Aber wie wäre es, wenn du etwas die Augen zu machst und versuchst, dich zu entspannen. Wir haben noch eine lange Fahrt vor uns." Und dieses eine Mal gebe ich ihm laut recht. "Ja, wahrscheinlich ist das die beste Option gerade. Bau nur keinen Unfall." Während er einmal auflacht, versuche ich es mir in dem Sitz bequem zu machen. Und obwohl die Gedanken in meinem Kopf unaufhörlich kreisen, ich eigentlich nicht müde bin und die ganze Situation absolut verfahren und absurd für mich ist, schließe ich meine Augen. Begleitet von den gleichmäßigen Geräuschen des Motors, der Reifen, des vorbei rauschenden Windes und schwarzen Augen versinke ich schnell in der Dunkelheit des Schlafes.
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Regrets
Action„Weiß dein kleiner Verehrer von deinem Geheimnis Prinzessin?" Ich sehe ihn nicht an als ich antworte. Meine Stimme schwingt dunkel, bedrohlich durch die Stille. "Was bitte meinst du?" Ich habe ihm noch immer den Rücken zugedreht, bin jedoch bereit m...