Kapitel 18

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Sobald Eduard aus meinem Sichtfeld verschwunden ist, schließe ich die Tür und schließe sie von innen ab. Vorsicht ist besser als Nachsicht. Unwillkürlich muss ich an Marc denken. Das war etwas, das er jedes Mal gepredigt, sich aber selbst nie dran gehalten hat. Wie oft ich seinen Hintern oder gar seinen Kopf retten musste.

Ein kleiner Stich dringt in mein Herz. Ich vermisse ihn und Brian. Normalerweise würden wir jetzt zu dritt vor dem Kamin sitzen und uns unterhalten.

Gedankenverloren laufe ich über den Flur. Dabei komme ich an dem alten Wandschrank vorbei. Ein Bild blitzt vor meinem inneren Auge auf. Die Waffe im Wandschrank. Wie automatisch öffne ich leise die Tür des Schranks und packe die Waffe versteckt hinein. 'Wer weiß wann du sie gebrauchen kannst', schallt Eduards Stimme durch meinen Kopf. Vorsichtig schließe ich die Tür des Schranks und bewege mich auf mein Zimmer zu.

"Marie", donnert Toms Stimme durch das Haus. Mist. Ich wollte mich eigentlich vor ihm drücken. Ich bin so müde, dass ich es nur noch schaffe, geräuschvoll ins Wohnzimmer zu schlürfen, bevor ich mich dort auf die Couch plumpsen lasse. Tom sitzt in dem Sessel mir leicht schräg gegenüber. Ich gähne herzhaft, bevor ein genervtes "was" meine Lippen verlässt. Ich spüre seinen musternden Blick auf mir. Es herrscht Stille. Gerade als ich mich aufrappeln will, um in mein Bett zu gehen, durchbricht die dunkle Stimme die Ruhe.

"Wirst du weich Henkerin?" Blitzschnell schnelle ich hoch, stürze mich auf Silas und drücke ihm die Kehle zu. Da ist kein Nebel, nichts Dumpfes. Alles ist klar, das hier tue ich in vollem Bewusstsein. Mein Gesicht schwebt direkt vor seinem. Langsam, ganz langsam öffne ich den Mund. "Sag du es mir", hauche ich ihm entgegen. Ihm entgeht die Drohung dahinter nicht. Er versucht zu schlucken, doch durch meinen Griff gelingt ihm das nicht wirklich. Ich verstärke diesen noch einmal und halte ihn, bis Tom langsam beginnt zu zappeln. Seine Augen sind groß, wirken, als hätte sich ein Schleier über sie gelegt. Er versucht zu atmen, doch ich habe diesen Griff schon tausendmal gemacht und damit auch getötet. Ich weiß, dass er keine Chance hat. Und Tom weiß das auch. Ein letzter Druck von mir und er klopft ab.

Gemächlich erhebe ich mich von ihm, während er nach Luft röchelt. Sie gierig in seine Lungen saugt. "Also?" Er weiß genau, was ich meine. Allerdings braucht er noch einen Moment, bis er mir antwortet. "Ich nehme es zurück. Aber das warst gerade nicht du." Ich lache auf. Mein Lachen ist eine Mischung aus Unglauben, Frust, Wut und Überforderung. Er hat es nicht bemerkt. "Wie willst du wissen, ob das wirklich ich war, wenn du mich nicht kennst Tom?" Ich spucke ihm seinen Namen regelrecht entgegen. Überrascht schaut er zu mir auf. Überraschung über die Wut in meiner Stimme, vermute. Über die Bitterkeit. Über den Hass in meinen Augen. Die Abwertung seiner Fähigkeiten und die Belustigung über seine Unwissenheit. Zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich Verunsicherung über sein Gesicht huschen, bevor es wieder zu der steinernen Maske wird. Doch die Verunsicherung bleibt in seinen Augen hängen.

Ich schnaube verächtlich auf. "Ich sage es dir jetzt einmal: du kennst mich nicht Silas. Und du wirst mich nie kennen. Du schaust zu wenig über den Tellerrand. Ich bin außerhalb deiner Reichweite, also steh mir nicht im Weg." Er schluckt einmal schwer. Ob er die Botschaft verstanden hat, wird die Zeit zeigen.

Langsam drehe ich meinen Kopf von ihm weg, schaue durch das Wohnzimmerfenster hinaus in den Wald. Ich meine, eine kleine Bewegung an einem der Bäume gesehen zu haben. Angestrengt schaue ich auf die Stelle, scanne die angrenzenden Stämme mit meinen Augen ab. Ich bin mir sicher, dass dort etwas war, doch ich erkenne nichts. Bedächtig gleitet mein Blick wieder zu meinem Bruder in spe. Sein Kopf ist in dieselbe Richtung gedreht, in die ich geschaut hatte. Sein Körper ist angespannt.

Das plötzliche Klingeln eines Handys lässt mich nur innerlich zusammenzucken, doch Tom springt vor Schreck auf. Er flucht leise, als er das kleine Gerät vom Tisch vor sich nimmt. Warum auch immer es mir erst jetzt auffällt, aber er hat nur eine Jogginghose an, sein Oberkörper ist frei. War ich so eingenommen von der Situation mit Eduard, dass ich das nicht vorher bemerkt habe? Die dunkle Stimme holt mich zurück aus meinen Gedanken.

"Dave, was gibt's?" Dave? Wer ist denn bitte Dave? Ich sehe Tom an, der seinen Blick auf mich heftet. Leicht lege ich den Kopf schief und ziehe fragend eine Augenbraue hoch, doch er schüttelt nur leicht den Kopf. "Nein, alles gut. Du hast mich nicht geweckt. Also, was ist los?" Ich lausche, versuche etwas zu verstehen. Doch ich höre nur ein dunkles Rauschen, Worte dringen nicht an meine Ohren. "Warte mal ganz kurz Dave", damit wendet sich Tom an mich. "Geh schlafen Kleine. Du siehst müde aus." Ich nicke knapp und setze mich in Bewegung. Dabei streifen meine Augen noch einmal den Teil vom Wald, wo ich vorher zu einhundert Prozent eine Bewegung wahrgenommen hatte. Doch nichts rührt sich.

Ohne Tom eines weiteren Blickes zu würdigen, bewege ich mich zum Durchlass und verlasse den Raum. Als ich am Wandschrank ankomme, halte ich inne. Tom flüstert ins Telefon. Uns trennt nicht wirklich eine Wand, deswegen verstehe ich, was er sagt. "Nein, sie ist jetzt schlafen gegangen. Ja es geht ihr gut. Ich denke, wir haben die Aufgabe überschätzt. Nicht nur das sie besser wird. Nein, nein. Sie hat mich bei vollem Bewusstsein angegriffen und mich dabei fast getötet. Bist du dir sicher? Ja. Ja, okay. Wo bist du gerade? Ah, verstehe. Ja, okay. Alles klar, bis morgen."

Schnell und leise flitze ich in mein Zimmer. Bedacht darauf, kein Geräusch zu machen, schlüpfe ich in mein Zimmer und schließe vorsichtig die Tür. Es ist still. Beängstigend still, doch davon lasse ich mich nicht einschüchtern. Etwas, das mich allerdings höchste Alarmbereitschaft versetzt, ist ein sanfter, kühler Lufthauch. Mein Blick schnellt zum Fenster. Ich bin mir sicher, dass es geschlossen war, als Tom und ich den Raum verlassen haben. Doch nun steht er sperrangelweit offen.

Meine Augen werden groß. Schnell sprinte ich zum Fenster, mein Blick schweift dabei durch den Raum. Es scheint nichts verändert worden zu sein, zumindest fällt mir auf den ersten Blick nichts auf. Mein Blick scannt die Umgebung. Auch hier ist nichts Auffälliges. Als ich mir sicher bin, dass keine Gefahr droht, inspiziere ich das Fenster. Es sieht nicht aufgebrochen aus. Keine Sprünge im Glas, keine Unebenheiten in den Rahmen. Nichts deutet auf einen Einbruch hin. Aber wie ist das Fenster dann aufgegangen, wenn es nicht aufgebrochen worden ist und definitiv geschlossen war, als ich das Zimmer verlassen habe. Tom kann es auch nicht gewesen sein. Er war direkt hinter mir.

Eine Gänsehaut breitet sich auf meinem Körper aus. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Ich ziehe den Vorhang zu und bewege mich langsam zu meinem Bett und setze mich darauf.

Was ist hier eigentlich los? Wer ist dieser Dave? Und wie zur Hölle ist das Fenster aufgegangen ohne Fremdeinwirkung? Ein plötzliches Knarren im Zimmer lässt mich ruckartig meinen Kopf heben. Es kam aus der Richtung des Bücherregals. Ich rühre mich nicht vom Fleck, lausche gespannt, doch nichts weiter ist zu hören. Langsam stehe ich auf, mein Körper ist angespannt. Leise bewege ich mich wieder auf das Fenster zu und ziehe die Vorhänge beiseite. Der Mond dringt in das Zimmer und erhellt das Innere ein wenig.

Ich höre nichts, dennoch stellen sich die Härchen an meinen Armen auf. Ein Luftzug streift meinen Nacken. Mit einem schnellen, gezielten Tritt nach schräg hinten, sodass ich die Seite treffe, befördere ich die Person hinter mir aufs Bett. Ein dumpfes 'uff' ist zu hören und schnell springe ich auf die Person. Als ich jedoch erkenne, wer sich da unter mir befindet, erstarre ich. Ich bin nicht in der Lage, mich zu bewegen. Denn mit dieser Person habe ich ernsthaft als letztes gerechnet. Meine Stimme ist nur ein Flüstern. Die Person unter mir packt mich an meiner Hüfte, hält mich fest. Die Augen fangen an zu funkeln und ein hungriger Ausdruck erscheint auf dem Gesicht, das nur wenige Zentimeter von mir entfernt ist.

"Du?"

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