Bevor mich meine Füße wie automatisch ins Wohnzimmer tragen, höre ich, wie die Eingangstür zwei Mal abgeschlossen wird. Vorsicht ist besser als Nachsicht, schießt es mir in den Kopf. Im Rahmen des Raums bleibe ich stehen. Vor meinem inneren Auge zieht ein kleiner Film vorbei. Ein Film, in dem meine Mutter stirbt und ich ihren Mörder erschieße. Der Traum scheint plötzlich wieder Realität zu werden. Meine Hände verkrampfen sich automatisch, mein Magen zieht sich zusammen. Warum musste es ausgerechnet dieses Haus sein?
Eine plötzliche Berührung reißt mich zurück ins Hier und Jetzt. Aus Reflex greife ich nach der Hand, schleudere den Inhaber mit aller Kraft über meinen Rücken. Ein ächzender Tom schlägt vor mir mit dem Rücken auf dem Boden auf. "Ups", murmle ich, bevor ich mich zu ihm runter knie. "Alles ok?" Eigentlich interessiert es mich nicht. Es war immerhin seine blöde Idee, hierher zu kommen. Ein genervtes Schnauben entweicht ihm. "Du wirst dich daran gewöhnen, wieder hier zu sein." Seine Stimme klingt drohend, bedrohlich. Kurzzeitig blitzt in seinen Augen etwas auf. Was ist los mit ihm? Ich habe keine Lust auf eine Diskussion, also zucke ich nur mit den Schultern. "Wir werden sehen." Das muss reichen.
Während ich mich wieder aufrichte, rappelt sich auch der junge Mann auf. Seine Augen sind zu schlitzen verengt, seine Stimme dröhnt durch den Raum. Seine Reaktion verwirrt mich, doch ich lasse mir nichts anmerken. Fragend, lege ich den Kopf etwas schief. "Nicht wir werden sehen. Das hier ist jetzt dein Zuhause ohne wenn und aber. Dein Zimmer ist dein altes, also solltest du jetzt dorthin gehen." Das war kein Vorschlag oder eine Bitte. Das war ein Befehl. Ich nehme von niemandem, außer Brian, meinem Chef, Befehle entgegen. Ich glaube, Silas alias Tom hat etwas den Bezug zur Realität verloren. Ich stelle mich vor ihn. Auch wenn er mich um einiges überragt, so wirkt er doch auf einmal viel kleiner. "Wie war das?" Und wieder habe ich das Gefühl, aus dem Hier und Jetzt gerissen zu werden. Nicht von Erinnerungen, sondern von etwas anderem. Das komische Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, ist wieder da. Ich spüre es, doch lasse es nicht gewinnen. Denn ich halte mich an Abmachungen.
Ich atme einmal tief durch und das Gefühl wird schwächer. Ich balle meine Hände mal wieder zu Fäusten und kämpfe verbissen dagegen an. Dränge es zurück. Hole mich selbst wieder hervor. Mein Bruder scheint es bemerkt zu haben. Für ihn muss es sehr offensichtlich sein. Die Schlitze in seinem Gesicht werden wieder normal, sein Gesichtsausdruck allgemein wird wieder neutral. Ein kleines Lächeln liegt auf seinen Lippen. "Das war gut Marie. Sehr gut. Also, willst du dich etwas ausruhen oder hast du hunger?" Die zuvor angestiegene Wut ist verpufft und ich realisiere: er hat mich getestet. Dieser kleine Mistkerl. Ich boxe ihm gegen den Arm. "Das war unfair!" Schmollend schaue ich ihn an, doch Tom lacht nur auf. "Ich muss dich unvorbereitet treffen, damit du das übst Kleine. Denk dran, die Kontrolle über dich selbst lernst du nicht aus Büchern, sondern aus Erfahrungen."
Verdutzt schaue ich ihn an. Meine Augen werden groß. Sofort ist er in Alarmbereitschaft. "Was ist los?" Dieses Mal ist seine Stimme besorgt, aber dunkel. Er würde sofort jemanden töten, wenn es sein muss. "Das war das Klügste, was ich je aus deinem Mund gehört habe. Seit wann hast du Intelligenz", hauch ich ihm die Frage entgegen. Amüsiert sehe ich die Veränderungen in seinem Gesicht. Zuerst ist er geschockt, dann beleidigt und am Ende schmollt er. Ich breche in schallendes Gelächter aus. Während ich mich vor Lachen schüttle, versucht der junge Mann einen Schmollmund. Es sieht einfach nur zum Schießen aus. Doch beides hält nicht lange. Weder sein Schmoll Versuch noch mein Lachen. Er stellt sich neben mich.
Langsam gleitet mein Blick durch den Raum. Die Möbel wurden ausgetauscht. Sie haben nun einen modernen Touch und wirken in ihrem hellen Beige nicht erdrückend. Die Wände sind weiß gestrichen worden. Auch der Teppich ist einem hell beigen flauschigen Exemplar gewichen. An der Wand am Ende des Raums steht immer noch der riesige Kamin. Er dominiert nicht nur die Wand, sondern den kompletten Raum. Wer auch immer diese Einrichtung zusammengestellt hat, wusste, was er tat.
Mein Blick schweift durch den Raum. Wieder läuft der Film ab, der mich in meinen Träumen verfolgt. Doch ich halte ihn bewusst an. Ich will diese Bilder nicht sehen. Nicht jetzt. Nicht, wenn jemand anderes dabei ist. Ich spüre wieder eine Hand auf meiner Schulter, doch dieses Mal reagiere ich nicht aus Reflex. Dieses Mal ist mir bewusst, dass es Tom ist. "Hier ist deine Mutter gestorben, richtig?" Seine Frage klingt sanft, einfühlsam, dennoch ist sie überflüssig. Langsam nicke ich. "Und nicht nur sie", fährt er fort. Ich unterbreche ihn. Er hat nicht das Recht, das auszusprechen, was mir auf der Seele brennt. "Und hier habe ich ihn erschossen. Vor Marcs Augen." Der Griff um meine Schulter wird stärker. Es fühlt sich so an, als würden die mächtigen Pranken sich in meinen Körper graben und sich dort verkrampfen. Tom weiß genau, wen ich meine, trotzdem fragt er. "Wen?" Ich hole tief Luft, lasse sie langsam meine Lungen füllen, bevor ich sie langsam wieder rauspresse. "Meinen Erzeuger." Ich meine, den Mann neben mir nach Luft schnappen zu hören. Doch es ist so kurz und schnell vorbei, dass es auch Einbildung gewesen sein könnte.
Langsam wende ich mich von dem Raum ab und drehe mich zu meinem Babysitter. "Ich denke", beginne ich den Satz und räuspere mich einmal, bevor ich weiter spreche. "Ich denke, ich werde mich etwas zurückziehen. Der Autositz war nicht unbedingt bequem." Tom mustert mich einige Sekunden, bevor er zustimmend nickt. "Es ist auch schon spät. Lass uns morgen einen Plan ausarbeiten" Stimmt er mir zu. Mit einem weiteren Nicken meinerseits verlasse ich den Raum und lasse ihn dort stehen. Automatisch tragen mich meine Füße den Flur entlang. Sie kennen ihr Ziel, haben es nie verloren. Die sichere Zuflucht, die nie eine war. Mein altes Zimmer. Vor der Tür halten sie an. Ich zögere. Warum? Weil die Erinnerungen mich geradezu überschwemmen. Ich weiß nicht, wie lange ich so da stehe, doch irgendwann schaffe ich es, die Hand zu heben und sie behutsam auf die Klinke zu legen. Das kühle Metall holt mich zurück. Es ist nur ein Zimmer. Ich öffne die Tür und trete ein. Auch hier hat sich die Einrichtung geändert.
Das kleine Bett ist einem großen Doppelbett im Himmelbett-Stil gewichen, der Fußbodenbelag wurde ausgetauscht und ist nun ebenfalls ein flauschiger, allerdings roter Teppich. Zwei Nachttische stehen an jeder Seite, zusammen mit einer Kommode, einem Schreibtisch und einem großen, noch ziemlich leeren Bücherregal. Alle Möbel haben Kirschholzoptik. Ein Stück Zuhause. "Ich dachte mir, das macht es dir vielleicht etwas leichter." Die tiefe Stimme erklingt hinter mir. Stimmt, ich habe die Tür nicht geschlossen. Ich drehe mich zum Eigentümer um. "Danke. Dann gute Nacht." Mit einem Nicken schließt er die Tür und ich höre seine Schritte sich entfernen. Langsam gehe ich auf das Bett zu, lausche auf meine Umgebung. Leise und in weiter Ferne höre ich Tom reden. "Ja, es ist alles gut gegangen. Gab nur einen kleinen Zwischenfall. Ja, aber sie macht jetzt schon Fortschritte. Ich glaube, es wird nicht lange dauern, bis sie soweit ist. Ja. Natürlich. Ich halte dich auf dem Laufenden." Während ich gelauscht habe, bin ich automatisch zur Tür geschlichen. Doch als das Gespräch beendet ist, gehe ich zu der Kommode und suche mir etwas Passendes zum Schlafen raus.
Mit wem hat er da gesprochen? War es Marc oder sogar Brian? Es hieß doch wir werden keinerlei Kontakt mehr zu der Familie haben. Und weder Marc noch Brian würden sich nicht daran halten, wenn es nicht einen triftigen Grund dafür geben würde. Wer könnte sonst ein Interesse daran haben, über mich Bescheid zu wissen? Außer meiner großen Herausforderung fällt mir aber partout niemand ein. Meine Gedanken rasen, doch alle Fragen führen zu keiner Antwort und führen zu einer großen, wahrscheinlich der wichtigsten Frage in diesem Moment.
Mit wem hat Silas gesprochen?
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Regrets
Action„Weiß dein kleiner Verehrer von deinem Geheimnis Prinzessin?" Ich sehe ihn nicht an als ich antworte. Meine Stimme schwingt dunkel, bedrohlich durch die Stille. "Was bitte meinst du?" Ich habe ihm noch immer den Rücken zugedreht, bin jedoch bereit m...