Zufall?

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Harry saß auf einer Klippe unter Wasser, die Arme um seine Fluke geschlungen, das Kinn darauf ruhend. Er starrte in die Bucht hinein, ohne wirklich etwas zu sehen. Grummelnd vergrub er das Gesicht in den Armen und ließ Luftblasen zur Wasseroberfläche blubbern. Das leise Ploppen der Blasen und das Brummen, dass er von sich gab, war ungewöhnlich laut in seinen Ohren.

Als sich ein Arm um seine Schultern legte, gab er ein hohes, kreischendes Geräusch von sich, dass durch das Wasser schallte, und zuckte weg. Neben ihm erklang ein überraschtes Geräusch, dessen Stimme er sofort zuordnen konnte. „Was sollte das denn jetzt, Tori?"

„Ich hatte nicht gedacht, dass du dich so erschreckst. Sonst bist du doch immer so aufmerksam. Und seid wir hier, war das eigentlich noch mehr als sonst schon. Was ist in deinen Gedanken?" Victorian setzte sich neben ihn und schlang seine Arme um ihn. Er legte sein Kinn auf Harrys Schulter ab.

„Ich... Warum bist du hier draußen? Du warst bisher doch nicht von den Junglingen wegzubekommen?"

„Dacen hat mich rausgeschmissen, damit ich mich wieder dran gewöhne. Und ich merke, dass du das Thema wechseln möchtest."

„Und du nicht?"

Victorian seufzte. „Ich bin sowieso schon mit den Gedanken die ganze Zeit in der Höhle. Und je mehr ich darüber nachdenke, umso unruhiger werde ich, weil ich die Junglinge nicht sehe. Ich versuche mich abzulenken, damit ich länger hier draußen bleiben kann. Was ist deine Ausrede?"

„Ich..." Er brach ab und sah einfach hinaus in die Bucht. „Ich... ich habe mich mit Seth gestritten. Er wollte nicht einmal einsehen, dass er uns in Gefahr gebracht hat. Dass sie Cosmo beinahe getötet haben. Ich meine, ich bin am Ende schuld, weil ich ihn nicht getötet habe, aber... er hat mir doch geschworen, dass er niemandem etwas erzählen wird. Und ich habe ihm wie ein Idiot geglaubt. Dabei warnen uns immer alle vor den Menschen."

„Harry, schau mich an." Victorian löste sich von Harry, packte dessen Kinn und drehte ihn zu sich. Harry senkte den Blick, um Victorian nicht anzusehen, aber der wartete, bis Harry doch nach oben schaute. „Du. Bist. Nicht. Schuld. Rede dir nicht so einen Mist ein. Du bist nicht schuld daran, dass es passiert ist. Du hast Cosmo gerettet."

„Das heißt nicht, dass ich ihn nicht in Gefahr gebracht habe. Ich hätte keinen Menschen mich sehen lassen sollen."

„Harry, schau mich an." Victorian wartete, bis Harry es tat. „Bereust du es wirklich oder bereust du es, weil du denkst, dass deshalb Cosmo in Gefahr geraten ist? Willst du wirklich, dass Seth tot wäre?"

Victorians Worte brachten Harry zum Nachdenken. Wollte er wirklich, dass Seth tot wäre? Und wollte er dessen Blut an den Händen kleben haben? Denn er konnte sich nicht einreden, dass er nicht immer daran erinnern würde. Es würde immer in seinen Gedanken sein. Und so sehr er sich putzen würde, dass würde er nicht loswerden.

„Ich denke nicht... dass ich will, dass er nicht da ist. Nein, nein, das wäre nicht gut." Harry schüttelte den Kopf. „Bin ich schlecht, weil ich nicht will, dass er stirbt? Oder dass ich es doch nicht bereue, dass ich ihn gerettet habe?"

„Nein. Nur weil du jemanden nicht töten willst, bist du keine schlechte Person. Du hast diese Gefühle, weil du die Junglinge beschützen wolltest. Du fühlst dich, als hättest du dabei versagt, aber das hast du nicht. Du kannst nicht alles voraussehen und dann kann man nur seinen Instinkten trauen. Und die werden dich nicht gewarnt haben. Bist du dir sicher, dass er es jemandem erzählt hat?"

Harry nickte. „Er hat mir gesagt, dass er es wem erzählt hat, auch wenn die ihm wohl nicht geglaubt haben. Aber er hatte geschworen, dass er niemandem von den Junglingen erzählen würde. Und dann verschwindet ein Jungling."

„Das heißt nicht, dass er jemandem etwas erzählt haben muss. Cosmo ist ein neugieriger kleiner Junge. Der geht auf Erkundungen, wenn man nicht aufpasst. Der kann selbst zur Oberfläche geschwommen sein. Und dabei kann er einfach so entdeckt worden sein. Das ist doch immer eine Gefahr."

„Aber das glaube ich nicht. Es wäre ein viel zu großer Zufall."

„Hast du ihn gefragt? Ich kann nicht glauben, dass er dich anlügen würde."

„Du kennst ihn doch nicht einmal."

Victorian warf den Kopf in den Nacken und lachte. „Ich habe ihn nie getroffen, nein. Aber du hast mir wirklich alles über ihn erzählt, was du weißt. Ich kenne ihn vermutlich ähnlich gut wie du selbst. Der will dir nie weh tun. Bestimmt hätte der dich nicht angelogen."

„Er hat es verneint. Er hat gesagt, dass er niemandem etwas gesagt hätte."

„Und..."

„Ich habe ihm nicht geglaubt. Es war... ich konnte ihm nicht glauben."

Victorian schloss Harry in die Arme. "Oh, Kleiner. Weil deine Instinkte dir gesagt haben, dass er lügt? Oder weil du ihm nicht glauben wolltest?"

„Es kann kein Zufall gewesen sein."

„Doch, Kleiner. Es kann sehr wohl ein Zufall sein. Du muss darüber hinwegkommen. Oder willst du, dass wir nach Hause gehen, ohne dass du nochmal mit ihm gesprochen hast? Das eure letzte Interaktion ein Streit gewesen war, der vermutlich absolut grundlos war?"

„Was meinst du damit?"

„Es geht mir besser und meine Instinkte werden auch langsam besser. Irgendwann die nächsten Tage können wir gehen. Aber jetzt schreien sie mich gerade wieder an und ich muss unbedingt nach den Junglingen sehen, sonst drehe ich durch." Damit ließ Victorian Harry wieder mit seinen Gedanken allein und verschwand zurück in der Höhle. Harry sah ihn die Bucht und dachte nach.

Wolf und WalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt