Herz zu Herz

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„Hey. Was machst du? Du siehst nicht so aus, als ob du hier nur schmollst." Victorian setze sich neben seinen kleinen Bruder und der schlang seine Arme um seine Fluke. Hier auf dem Vorsprung saß er gerne und er würde ihn vermissen, sobald sie wieder in ihrer Heimat waren. Da war es schwer eine ruhige Ecke zu finden, denn überall waren immer Leute. Etwas das hier ganz anders war.

„Ich will nicht nach Hause. Nicht wirklich. Ich meine, ja, ich vermisse zuhause und es ist hier gefährlich und alles, aber... ich mag es hier. Ich will hierbleiben."

Victorian schmunzelte und legte einen Arm um Harry. „Du willst nur Seth nicht verlassen."

„Da...das ist nicht wahr. Ich mag es hier. Wirklich." protestierte Harry, aber Victorian brach nur in Gelächter aus und zog Harry enger an sich.

„Ri. Ich bin dein großer Bruder. Ich weiß mehr über dich als du selbst. Ich kenne dich. Und ich werde dir nicht vorwerfen, dass du für einen Typen hierbleiben willst. Gerade ich werde mich da hüten dir da irgendwas vorwerfen. Du wirst auf dich selbst hören müssen. Diese Entscheidung musst du für dich selbst treffen. Das kann ich dir nicht abnehmen."

„Aber dann werde ich dennoch ganz allein hier sein. Du wirst wieder nach Hause gehen und dann habe ich nur Seth und wenn das dann doch nicht funktioniert? Was mache ich dann? Das bin ich hier allein und in Gefahr und..."

„Erstmal atmest du durch und kommst wieder runter. Nur weil du eine Entscheidung getroffen hast, heißt das nicht, dass du für immer dieser Meinung sein musst. Du kannst jederzeit deine Entscheidung ändern und doch wieder zurückkommen. Du bist doch kein Hellseher, der schon ganz genau weiß, was passieren wird. Niemand von uns weiß das, wenn man eine Entscheidung trifft. Die trifft man in einem Moment und in einem anderen trifft man eben eine andere."

„Aber ich bin dann dennoch allein hier. Niemand da."

„Kleiner. Wir sind doch nicht aus der Welt. Ja, wir müssen einen halben Tag von zuhause schwimmen, aber wir sind doch nicht wirklich weg. Wir sehen uns vielleicht nicht jeden Tag, aber du kannst immer zu uns kommen und wir werden dich definitiv besuchen, solltest du hierbleiben."

Harry drehte sich in der Umarmung und sah Victorian an. „Ihr würdet wirklich nur für mich hierherschwimmen? Aber das ist eine Halbtagesreise."

„Ja und? Du bist mein kleiner Bruder. Als ob eine Reise von einem halben Tag da irgendwas dran ändern würde. Wenn du mich brauchst, dann komme ich auch. Ob ich dann einen halben Tag schwimmen muss oder nicht. Ich bin dein Bruder, ob wir im selben Haus wohnen oder eben einen halben Tag auseinander."

„Wo würde ich denn dann wohnen? Hier im Wasser ist es doch so gefährlich. Allein kann ich hier nicht unter Wasser leben."

Victorians Lachen schallte durchs Wasser. „Du bist kein Meermensch wie ich es bin oder Dacen oder die Junglinge. Du musst nicht hier im Wasser leben. Ich weiß, dass du nicht gerne die Gestalt wechselst, aber du tust es ja, um Zeit mit Seth zu verbringen. Wenn wir nicht hier sind, dann hast du keinen Grund, um im Wasser zu bleiben. Lerne die Welt da draußen kennen. Ich wette, dass Seth sie dir nur zu gerne zeigen wird."

„Aber da draußen sind auch die anderen Werwölfe. Und die will ich eigentlich nicht nochmal treffen."

„Auch nicht, wenn Seth dich vor ihnen beschützen würde? Was du vom letzten Mal erzählt hast, ist der auch nicht begeistert, von dem was die anderen Werwölfe so angestellt haben. Er wird dich mit denen sicher so bald nicht allein lassen. Und es ist nun ja auch nicht so, als ob du zuhause nicht auch Leute hättest, die du nicht magst."

Harry musste nicht lang nachdenken, bis ihm Leute einfielen, die er nicht mochte und denen er am liebsten aus dem Weg ging. Und Victorian hatte Recht. Manche dieser Leute würde er jederzeit gegen die Werwölfe tauschen, ob nun mit Seth oder nicht. Diese Meermenschen konnten einem wirklich auf die Nerven gehen, schlimmer als jeder Werwolf, den er getroffen hatte.

„Und ich würde wirklich bei den Menschen leben können?" Harry sah Victorian hoffungsvoll an.

"Wenn es jemand von uns könnte, dann bist das du. Du hast bereits über dem Wasser gelebt. Und du wärst ja nicht allein. Seth würde dir sicher helfen alles zu lernen, was du neu lernen musst. Es ist mehr die Frage, ob du diesen Schritt gehen willst. Aber du weißt auch, dass wir dich hier nicht gerne allein lassen würden. Aber wir würden es zulassen."

„Auch wenn ich nicht direkt aus dem Wasser umziehen würde? Wenn ich zunächst im Wasser bleiben würde."

„Weil es sich sicherer anfühlt? Ich würde es nicht gerne sehen, sicher nicht. Besonders wegen der Orcas. Ich würde mir Sorgen um dich machen. Und ich würde es nicht unbedingt toll finden zu wissen, dass du hier ganz allein bist. Aber wenn das dein Wunsch ist, dann würde ich dich lassen."

„Einfach so?"

Victorian nickte. „Ja, einfach so. Wenn es dich glücklich macht und du dich dann sicherer fühlst, dann würde ich dich lassen. Einfach so."

„Und ich kann direkt wiederherkommen?"

„Du kannst, aber ich würde gerne noch ein paar Tage mit dir verbringen. Aber wenn du direkt wieder umdrehen willst, dann werde ich dich nicht aufhalten. Das Herz will, was das Herz will." Victorian zuckte mit den Schultern. „Und wir sollten darauf vertrauen, dass es uns zu guten Dingen führt."

„So wie deines dich geführt hat?"

„Genauso. Wenn ich auf meinen Verstand gehört hatte, dann hätte ich Dacen niemals eine Chance gegeben. Und heute kann ich mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen und will das auch gar nicht. Und ich hoffe, dass dein Leben irgendwann auch mal so ist. Dass du auf deine Entscheidungen zurücksiehst und stolz bist, dass du sie so getroffen hast. Ob es dann einfach war oder direkt funktionierte, ist nicht wichtig. Nur, dass du irgendwann stolz darauf sein kannst."

„Aber das weiß ich doch jetzt noch nicht." protestierte Harry.

Victorian wuschelte ihm kichernd durch die langen Haare. „Das stimmt. Aber manchmal muss man den Schritt trotzdem machen. Und wie ich dich kenne, wirst du den Schritt machen. Also ab mit dir. Finde deinen Typen und sag ihm, dass du wieder zu ihm zurückkommst."

Für einen Moment war Harry wie versteinert und er konnte sich nicht rühren. Dann warf er seine Arme um Victorian und drückte ihn fest an sich, ehe er sich von der Felswand abstieß und durchs Wasser schoss.

Wolf und WalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt