Vermutlich wäre es normal gewesen, wenn Emily immer noch völlig hysterisch gewesen wäre und sich ihre Gedanken überschlagen hätten. Doch in ihrem Kopf herrschte völlige Leere. Alles, was sie tun konnte, war regungslos dazuliegen und die Wand anzustarren. Wahrscheinlich hatte noch nie jemand eine Wand so eingehend betrachtet wie sie es eben tat.
Sie konnte hören, wie James auf Möbelstücken herumrückte und aufräumte. Seitdem er sie mit warmen Wasser abgebraust hatte, hatte sie ihn ohne Pause beobachtet. Sie hatte alles in sich aufgenommen, jede Bewegung, jedes Blinzeln, jedes Kräuseln seiner Lippen, jede Veränderung in seinen grünen Augen. Emily hatte das Gefühl, dass James noch nie zuvor so ehrlich zu ihr gewesen war, wie in diesem Moment. Sie hatte erlebt, wie seine Fassade vollkommen in sich eingestürzt war und welche Folgen das nach sich gezogen hatte. Ich könnte es nicht ertragen dich leiden zu sehen. Glaubst du mir, dass ich dir nicht wehtun will? Ja, nun glaubte sie James.
Er hatte sie gerettet. Er hatte sie beschützt. Und er hatte sich um sie gekümmert. Nun wusste Emily ohne jeden Zweifel, dass James keine Bedrohung für sie war. Was auch immer in den nächsten Stunden passieren würde, in denen sich die vier Männer noch in diesem Haus aufhielten, wenn James in ihrer Nähe war, hatte sie nichts zu befürchten.
Emily war sicher, dass die ganze Situation noch haarig werden würde. Der Konflikt mit ihrem Peiniger würde noch Konsequenzen nach sich ziehen, keine Frage. Doch wenn sie sich daran zurückerinnerte, wie schnell es James gelungen war, diesen Mann mit wenigen Bewegungen unschädlich zu machen, hatte sie keine Zweifel daran, dass er auch mit mehreren Gegnern fertig wurde. Es war fast so, als hätte James eine Ausbildung für Auftragsmörder gemacht. Diese Effizienz war bemerkenswert und beängstigend zugleich.
Nun faszinierte es Emily aufs Neue, wie James auf der einen Seite so kalt und mörderisch grausam sein konnte, und auf der anderen Seite so unendlich sanft zu ihr war. Auch wenn alle Vernunft dagegen sprach, entschied sich Emily dafür, ihn nur danach zu beurteilen, wie James sich ihr gegenüber verhielt.
Sie hätte es zwar nie gedacht, aber das fiel ihr leicht. Für Emily entpuppte sich das als eine überaus einfache Entscheidung, die noch leichter auszuführen war. Und Emily hatte sich dafür entschieden James zu glauben und ihm zu vertrauen. Nach allem, was bisher passiert war, hatte er sich ihr Vertrauen verdient.
Und was hatte sie auch für eine Wahl? Sie war ihm und seiner Gnade völlig ausgeliefert. Sie fühlte sich völlig nackt, wie vorhin, als er sie abgetrocknet und neu angezogen hatte. Er hatte gesagt, dass er sie nur anziehen wollte. Emily hatte ihm geglaubt und er hatte nichts anderes getan.
Wem sonst konnte sie in diesem Haus schon vertrauen? Ihren Mitbewohnerinnen? Die interessierten sich mehr für ihre Acrylfingernägel, als für Emily. Und den anderen Männern, die mit James hier eingedrungen waren, war ohnehin nicht zu trauen. Was blieb ihr also anderes übrig, als sich an den einzigen Funken Hoffnung, das alles lebend zu überstehen, zu klammern?
Da fiel Emily plötzlich ein, dass sie James noch nicht einmal gedankt hatte. Alles, was sie getan hatte, war ihn verzweifelt zu umarmen und ihn anzuflehen sie nicht zu verlassen. Das waren nicht gerade die Worte der Dankbarkeit, die er verdient hatte. Doch sie war sich nicht sicher, ob sie ihre unendliche Dankbarkeit überhaupt je würde in Worte fassen können.
Aus irgendeinem Grund, den Emily nicht kannte, wuchs so etwas wie Hoffnung in ihrem Inneren empor und wurde immer mächtiger. Plötzlich war sie sich sicher, dass sie all das hier ohne noch größeren Schaden überleben würde. Natürlich war sie immer noch traumatisiert von den Geschehnissen, und der Schnitt an ihrem Bein würde vermutlich bald eine hässliche Narbe hinterlassen, die sie immer an dieses Dilemma erinnern würde. Doch die Zuversicht, dass sie irgendwann völlig normal weiterleben würde, machte sich nun in ihr breit. Sie würde es schaffen. Sie war stark genug um das Erlebte zu verarbeiten.
DU LIEST GERADE
48 Stunden in ihrer Gewalt
LosoweEmily führt ein sehr zurückgezogenes Leben in einer Privatschule, wo sie nicht viel mit ihren Mitschülerinnen anfangen kann. Doch eines Tages nimmt das ruhige Leben dort ein jähes Ende, als vier Männer ihre Wohneinheit stürmen, sie und ihre Mitbewoh...