Kapitel 33

214 14 3
                                    

Fünf Wochen waren inzwischen vergangen. Die Reporter, die einem das Mikrofon ins Gesicht drückten und nach einer Stellungnahme zu den vorgefallenen Ereignissen baten, wurden weniger. Immer seltener kam die Polizei ins Haus um weitere Fragen zu stellen. Die Gespräche, die die Schülerinnen an der Charles Norton Private School über die Geiselnahme führten, wurden immer weniger. Nach einer Woche hatte auch wieder normaler Unterricht stattgefunden. Die Sicherheitsmaßnahmen waren verstärkt worden und für Emily und ihre fünf Mitbewohnerinnen war ein Trauma-Team engagiert worden, die ihnen helfen sollten, das Geschehene zu verarbeiten. Der geflohene Geiselnehmer namens Jacob war bisher nicht gefunden worden.

Trotz all dieser Veränderungen war inzwischen wieder einigermaßen Ruhe eingekehrt. Die Reporter und die Polizisten verschwanden, die Gespräche über die Vorfälle verebbten und alles kam wieder auf die ursprüngliche Routine zurück. Dennoch blieb etwas bestehen, dass sich gravierend geändert hatte. Wo immer Emily auch hinkam, alle sahen sie mit einer Mischung aus Verachtung und Misstrauen an, als wäre sie ein Alien und lediglich auf die Erde geschickt worden, um die menschliche Rasse zu studieren. Aber immerhin zeigten sie nicht mehr mit ihren Fingern auf Emily und tuschelten, wenn sie dachten, sie würde es nicht bemerken.

Die Lehrer fassten die sechs Mädchen nur noch mit Samthandschuhen an, und fragten sie jeden Tag, wie es ihnen ginge, eine Angewohnheit, die Emily immer mehr auf die Palme brachte, denn ihre Antwort war ohnehin jedes Mal dieselbe. Auch die anderen Mädchen schienen die ständigen Fragen über ihr Wohlbefinden in jeder einzelnen Schulstunde zu stören. Und somit wurden auch diese Fragen weniger, da alle nur noch sagten, dass es ihnen wieder gut ginge, auch wenn das vielleicht nicht stimmte.

Gerade trat Emily aus dem Aufzug und betrat anschließend die Wohnung. Wenn man nicht wusste, was passiert war, wäre man nie darauf gekommen, dass in dieser Wohnung vor wenigen Wochen sieben Leute gestorben waren. Der Boden und die Möbel waren generalüberholt, die Tür zu Emilys Zimmer war ausgewechselt worden. Nichts erinnerte mehr an die grausamen Morde.

So wie sie es immer machte, steuerte Emily direkt auf ihr Zimmer zu und schloss die Tür hinter sich. Sie stellte ihre Schultasche auf den Boden, setzte sich an den Schreibtisch und begann damit, ihre Hausarbeiten zu schreiben.

Plötzlich hörte sie ein Klopfen. Ehe sie sich über dieses fremde Geräusch überhaupt bewusst war und immer noch verwirrt auf ihre Tür starrte, wurde diese geöffnet und ein aschblondes Mädchen steckte den Kopf zur Tür herein.

„Äh, tut mir leid, wenn ich dich störe, aber darf ich kurz hereinkommen?"

Darla klang nervös und etwas unsicher, doch Emily nickte und sie kam herein. Als sie zwischen Bett und Schreibtisch stand, puhlte sie an ihrer Nagelhaut und schien unsicher, was sie tun sollte. Emily sagte ihr, sie solle sich setzen, was diese dann auch tat. Eine Weile saßen sich die beiden Mädchen nur gegenüber und schwiegen, dann ergriff Darla das Wort.

„Ich habe gesehen, was passiert ist, Emily."

Emily zog die Augenbrauen zusammen und wusste nicht, wovon Darla sprach. Außerdem wusste sie noch immer nicht, wie sie sich ihr gegenüber verhalten sollte, bisher war noch nie jemand in ihrem Zimmer gewesen. Zumindest keine ihrer Mitbewohnerinnen und schon gar nicht sie. Darla musste ihr die Verwirrung ansehen, denn sie sprach weiter.

„Ich meine, ich habe gesehen, dass du diesen Mann gehen hast lassen."

Für einen Moment wusste Emily nicht, was sie sagen sollte. Ihr Mund war vor Verwunderung leicht geöffnet und sie schüttelte verwirrt den Kopf.

„Warte... du hast... aber... wieso bist du... ich meine... die Polizei... du hast nichts gesagt...", stotterte Emily und versuchte sich immer noch darüber klar zu werden, was ihr ihre Mitbewohnerin erzählte.

„Als ich gehört habe, dass Schüsse fielen, da habe ich die Tür meines Zimmers geöffnet. Was genau passierte, konnte ich nicht sehen, aber aus dem, was ich hörte, konnte ich so in etwa schließen, was im Gemeinschaftsraum vor sich ging. Irgendwann habe ich dann auch deine Stimme gehört. Du hast einen von ihnen erschossen oder? Du hast Larry erschossen."

Emily nickte nur und sah Darla weiterhin an, die sie nicht bösartig oder gemein ansah. Ihr Gesichtsausdruck war eher so, als wollte sie etwas verstehen und anscheinend erwartete sie von Emily, dass diese ihr dieses Verständnis geben konnte.

„Gut... Ich bin froh, dass du es getan hast. Was dieser Kerl mir und den anderen angetan hat...", ihre Stimme bröckelte und Tränen stiegen ihr in die Augen, doch einige Sekunden später hatte sie sie bereits weggeblinzelt und fuhr fort, „aber warum hast du ihn umgebracht? Was hat dich dazu veranlasst das zu tun?"

„Ich... Er hat mir das Leben gerettet, ich stand also in seiner Schuld. Ich konnte nicht zulassen, dass Larry ihn umbringt", sagte Emily und zuckte mit den Schultern, wohl darauf bedacht nicht James' Namen zu nennen. Auch wenn Darla offenbar nichts Böses im Schilde führte, war Emily ihr gegenüber dennoch vorsichtig.

„Hast du ihn deshalb auch gehen lassen?"

Emily nickte wieder. Doch Darla legte den Kopf schief und kniff die Augen etwas zusammen.

„Ich habe euch gesehen, Emily. Das war nicht der einzige Grund oder? Auch nicht dass du Larry getötet hast. Du empfindest etwas für ihn, oder?"

Wieder nickte Emily, diesmal jedoch bedeutend langsamer, und musste sich bemühen, dass ihr nicht die Tränen in die Augen stiegen.

„Aber er hat niemandem wehgetan. Na gut, Robert schon, den hat er umgebracht, aber das hat er nur getan, um mich zu beschützen. Und euch hat er doch nie angefasst, er hat euch nie wehgetan, das weiß ich genau", sprudelte es aus Emily hervor und sie spürte mit jedem Wort, wie sie sich mehr in diese Sache hineinsteigerte, „er war doch die meiste Zeit bei mir und..."

„Ich weiß Emily, beruhig dich. Keine Angst, ich will dich nicht verraten, ich möchte nur verstehen", unterbrach sie Darla mit beruhigender Stimme und legte ihr die Hand auf ihr Knie. Emily wusste nicht, was sie sagen sollte und starrte sie nur unschlüssig an.

„Ich habe den Cops gesagt, dass ich hörte, wie einer der anderen Geiselnehmer ihn Jacob genannt hatte", sagte sie dann mit fester Stimme.

„Wieso hast du das gemacht?", fragte Emily unsicher und merkte, wie sich Dankbarkeit in ihr ausbreitete. Darla zuckte mit den Schultern.

„Er hat mir nicht wehgetan. Mein Vater ist Millionär, der wird den Verlust von ein paar Tausend Dollar schon verkraften. Und welchen anderen Grund hätte ich denn, euch zu verraten? Ich hasse dich nicht, Emily, auch wenn du das glaubst. Du hast mir nie einen Grund geliefert, dich zu hassen. Und außerdem dachte ich mir, dass ich dir etwas schuldig bin. Meine Freundinnen und ich haben dich jahrelang ziemlich fertig gemacht und mies behandelt. Das tut mir wirklich sehr leid, Emily. Ich hoffe du kannst mir das verzeihen. Jedenfalls dachte ich, dass ich dich als Wiedergutmachung decken könnte. Niemand weiß davon, das bleibt unter uns, versprochen. Ich wollte nur, dass du das weißt."

Damit stand Darla auf und bewegte sich auf die Tür zu. Ehe sie sie öffnen konnte, drehte sich Emily noch einmal zu ihr um.

„Ich danke dir", flüsterte sie.

Darla sah sie lächelnd an und nickte nur. Dann öffnete sie die Tür und als sie diese wieder hinter sich geschlossen hatte, war Emily wieder allein. Einen Moment lang musste sie ihre Gedanken ordnen, dann wandte sie sich wieder ihren Aufgaben zu, merkte aber schon nach kurzer Zeit, dass sie sich nicht konzentrieren konnte. Gerade Darla, ihr absoluter Alptraum an dieser Schule, hatte sie bei der Polizei gedeckt. Gerade sie, die in all den Jahren die Anführerin des „Macht-Emily-fertig-Clubs" war. Damit hätte Emily nie und nimmer gerechnet.

Dann fiel ihr Blick auf den smaragdgrünen Ohrring, der neben der Schreibtischlampe ruhte und dessen Gegenstück irgendwo weit entfernt bei einem Mann war, den Emily niemals wiedersehen würde. Langsam nahm sie ihn in die Hand und sah ihn an. Nach einigen Sekunden nahm sie ihre kleine Schatzkiste, in der sie Kleingeld aufbewahrte zur Hand und leerte die Münzen aus. Stattdessen legte sie den Ohrring hinein und verschloss die Kiste, bevor sie sie wieder an ihren ursprünglichen Platz stellte. Nie wieder würde sie diesen Ohrring tragen. Niemals würde sie ihn vergessen. Doch immer würde sie in den smaragdgrünen Steinen James unergründliche Augen sehen, in denen eine ganze Welt von Gefühlen zu existieren schien. Die Augen, die zu ergründen sie nie wieder die Möglichkeit haben würde.

Ihr blieb nur die Erinnerung und der dazugehörige Schmerz, der sich jedes Mal meldete, wenn Emily den Ohrring ansah.

48 Stunden in ihrer GewaltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt