Kapitel 1

478 40 8
                                    


Meine ältesten Erinnerungen reichen zurück zu meinem vierten Lebensjahr. Es sind sehr verschwommene Erinnerungen und dennoch messe ich ihnen bis heute großen Wert bei. Denn als ich vier Jahre alt war, war die Welt noch in Ordnung.

Damals waren die Menschen noch frei.

Meine Mutter verließ oftmals mit mir die Stadt. Dafür setzte man sich in sein Auto und fuhr über die Grenze. Es gab noch keine Scanner, die einem die Durchfahrt verbieten konnten, wenn der Stress-Level zu hoch war und es gab keine Dronen, die einen misstrauisch beäugt hätten.
Ich erinnere mich an den kalten Winter in diesem Jahr und meine Mutter liebte es durch den tiefen Schnee außerhalb der engen Großstadt zu stapfen. Außerdem erinnere ich mich an den verträumten, glücklichen Blick, den sie über die weiße Landschaft schweifen ließ.
Genauso sah sie auch mich immer an.
‚Schnee ist eines der letzten, reinen Dinge auf dieser Welt.'
Dann nahm sie mich auf den Arm und strich mir sachte über das Haar. Sie liebte meine Haare, denn sie waren genauso weiß und rein wie der Schnee.
Ich musste ihr Recht geben. Der Schnee war wirklich wunderschön. Und dennoch war mir stets kalt, wenn ich mit ihm in Berührung kam.

An anderen Tagen ging meine Mutter mit mir in die Stadt. Obwohl ihr die Menschenmassen in den engen Straßen nie zusagten, trieb es sie unweigerlich immer wieder dorthin.
Denn dort, zwischen all den lauten Menschen, den schnellen Autos und den blinkenden Reklamen gab es ein kleines Geschäft, in dem sie Ruhe fand.
Nur drei Blocks von unserem Haus entfernt, am Rande eines Marktplatzes, verbogen in einer Seitenstraße besaß ihre ältere Schwester ein kleines, eigentümlich gemütliches Buchgeschäft.
‚Literatur Menagerie' prangte über der Tür. Die Buchstaben waren keine leuchtende Reklame, sondern schlichtes Holz mit einer feinen Goldbemalung. An einigen Stellen blätterte die alte Farbe bereits ab und auf dem großen M hockten oftmals Tauben, die dort ihren Dreck hinterließen.
Und dennoch sah es neben all den strahlenden, bunten Plastik-Reklamen stets edel aus.

Ich mochte diesen Laden. Ich mochte ihn viel mehr, als die kalten, weißen Landschaften. Hier gab es stets etwas zu erforschen und ich ließ mir stundenlang von meiner Tante und meiner Mutter aus Büchern vorlesen. Damals lobten sie mich und sagten mir immer wieder, was für ein kluges Kind ich doch sei. Sie kicherten, wenn ich verzweifelt versuchte aus eigener Kraft einen der schweren Wälzer aus dem Regal zu ziehen und dann halfen sie mir und erzählten mir von der Geschichte, die ich selbst noch nicht lesen konnte.
Es waren schöne, sorglose Zeiten. Es waren Zeiten, in denen jeder Mensch selbst entscheiden konnte. Es waren Zeiten bevor Sybil das Leben aller bestimmte.
Damals war die Bücherei mein liebster Ort auf dieser Welt. Nirgends verbrachte ich schönere Stunden meiner Kindheit. Bis heute hat sich das nicht geändert.
Doch heute existiert dieser Ort nicht mehr.

Mein Vater war vollkommen anders als meine Mutter und ich. Er war ein Mann der Geschäftswelt, den wir nur selten sahen. Meist reiste er durch die verschiedensten Länder unserer Welt. Er schloss Verträge, kontrollierte ausländische Niederlassungen und koordinierte tausende Mitarbeiter über den Globus.
Er war der Juniorchef in der Firma seines Vaters, die er in einigen Jahren selbst übernehmen würde. Dementsprechend war unsere finanzielle Lage niemals ein Problem gewesen. Mir hatte nie etwas gefehlt in dem großen Stadthaus am Park, das wir unser Eigen nannten. Er kaufte mir jedes Spielzeug und jede Süßigkeit nach der es mir verlangte und gleichzeitig nahm er mich manchmal mit in sein Arbeitszimmer und erzählte mir von der Ungerechtigkeit dieser Welt.

Heute weiß ich, dass er mir diese Dinge zu früh erzählt hat. Ich war ein kleines Kind, das man über Lug und Trug der Geschäftswelt aufklärte.
Er lehrte mich, dass man nur auf Kosten anderer erfolgreich werden kann. Er erzählte mir von Rufmord, von Verleumdung und Vertragsbruch, ehe ich schreiben und lesen konnte.

Mein Vater war ein Realist. Er war berechnend und oftmals sehr distanziert gegenüber den Menschen.
Und dennoch war er immer ein liebender Vater und Ehemann. Ich glaube viele sahen in ihm einen schlechten Mensch, doch dem möchte ich nicht vorbehaltlos zustimmen. Er war schlicht und einfach ein Mann, der seinen Weg gewählt hatte. Für das Wohl und den Luxus seiner Familie brachte er Opfer. Er stellte sich bewusst gegen Ethik und Moral, damit er mich und Mutter gut versorgt wusste.

Bei uns im Haus war es meistens ruhig.
Obwohl wir genug Geld hatten, stellten wir niemals eine Haushaltskraft oder ein Kindermädchen ein. Das große Haus beim Stadtpark gehörte uns allein und das war gut so.

Meine Eltern waren ebenfalls leise Menschen. Sie redeten besonnen und ruhig miteinander und stritten fast nie.
Es gab nur einen einzigen Grund, wegen dem sie sich manchmal nicht einig waren. Ich hasste es, wenn sie böse aufeinander waren und dennoch war ich fasziniert von dem Konflikt. Dann machte ich mich immer ganz klein und hörte ihnen heimlich beim Streiten zu.
Meistens stritten sie sich wegen meiner Tante.
Als Kind begriff ich nie, was mein Vater gegen sie hatte, doch heute kann ich es endlich in Worte fassen: Es war schlichtweg eine grundlose Antipathie. Er mochte diese Frau nicht und er mochte es nicht, dass meine Mutter so viel Zeit mit ihr verbrachte. Für mich, der ich als Kind nirgends lieber meine Zeit verbrachte, machte das keinen Sinn. Ich verstand nicht, warum er sie manchmal beleidigte und warum er gemein zu ihr war, wenn sie Weihnachten an unserem Tisch saß.
Als Kind konnte ich mit all diesen Informationen nichts anfangen. Ich mochte meinen Vater und ich mochte meine Tante.
Und es spielte auch gar keine Rolle, dass die beiden sich nicht leiden konnten, denn mehr als böse Worte fielen niemals zwischen ihnen.

Damals war das gar kein Problem. Menschen konnten einander ablehnen und konnten grundlos böse aufeinander sein. Erst die Einführung des Psycho-Passes änderte das. Plötzlich war Antipathie bereits ein Vorbote von Gewaltbereitschaft und schlussendlich ein Risikofaktor. Beleidigungen und grundloses Schimpfen erzeugten Ärger, Wut und schließlich Stress. Stress war nicht gut. Stress wurde bei den regelmäßigen Checks registriert und verdunkelte den Psycho-Pass.

In der heutigen Zeit werden Kinder an ihrem fünften Geburtstag erstmalig hinsichtlich ihres Psycho-Passes untersucht. Das ist keine besondere Untersuchung und es gibt nur ganz wenige, die bereits in diesem Alter auffallen. Wahrscheinlich ist der Grund dafür die sprichwörtliche ‚Unschuld eines Kindes'.

Als ich fünf Jahre alt wurde, prangten die ersten Plakate, die Sybil ankündigten, in den Straßen. Damals waren darauf ein wachsames Auge und ein schützendes Schild abgebildet und jedermann war neugierig und aufgeregt. Unser aller Leben würde besser und sicherer werden.
Obwohl ich noch ein Kind war, habe ich zu dieser Zeit bereits irgendwie gespürt, dass das nicht richtig ist. Vielleicht waren das die ersten Anzeichen dafür, dass ich eben nicht in das Schema dieses Systems passte.
Außerdem war ich mir sicher, dass dieses System nicht aus einem Auge und einem Schild bestehen kann und habe meine Eltern gefragt, was das Sybil System wirklich ist.
Obwohl mir meine Mutter stets all meine Fragen mit Freude beantwortet hatte, konnte sie mir hierbei keine Antworten liefern.
‚Wir müssen abwarten und es uns anschauen. Wenn Sybil eingeschaltet wird, dann wird unser aller Leben sicherer.' Sie hatte dabei gelächelt.
Wir waren so furchtbar naiv. Die Gesellschaft war naiv.

Als ich in der zweiten Klasse war, wurde das Sybil System schließlich vollständig eingeführt. Scanner wurden an jeder Straßenecke aufgestellt, Gesundheitszentren wurden eröffnet und jeder Mensch konnte nun zu jeder Zeit seinen eigenen Psycho-Pass einsehen. Es wurde verglichen und teilweise untereinander damit angegeben.
Einmal hörte ich, wie jemand davon sprach, dass sein Psycho-Pass fast vollkommen ‚rein' sei und musste an die Worte meiner Mutter denken.
Nur Schnee wäre rein. Schnee und ich.
Das hatte ich ihr damals vorbehaltlos geglaubt, weil der Schnee so wunderschön weiß gewesen war. Jetzt gab es plötzlich ein paar Ziffern, die einem so etwas sagen sollten. Diese Ziffern waren schwarz. Sie waren unumstößliche, schwarze Zahlen, die von einem System in die leeren Bücher der Menschen geschrieben wurden.
Die Menschen verfassten plötzlich ihre Lebensgeschichte nicht mehr selbst. Sybil hatte ihnen die Feder aus der Hand genommen und angefangen in ihren weißen Seiten herumzukritzeln.
Als Kind konnte ich diese Gefühle noch nicht in Worte fassen, doch irgendwo tief in mir empfand ich das damals bereits als falsch.

Schneeweiße Biografien - Die Geschichte von Makishima ShogoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt