Kapitel 4

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Zu jener Zeit, als ich 16 Jahre alt war, dachte ich, dass mein Leben völlig andersartig war, als das der meisten anderen Menschen. Es gab für mich keine Gesellschaft mehr und es gab auch keine persönlichen Motivationen mehr.
Es war langweilig.
Heute weiß ich, dass ich damals trotz allem ein sehr normales Leben führte. Jedermann ist einsam. Jeder empfindet diese Langeweile in seinem Alltag.
Und obwohl mein Psycho-Pass sich als frei von jeglicher Konsequenz zeigte, so war auch ich ein Teilchen des Systems. Es machte keinen Unterschied, dass meine Gedanken frei blieben. So lange mein Umfeld nicht frei war, brachte mir das nichts.
Ich langweilte mich so sehr und wusste mir lange Zeit nicht zu helfen.

Kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag lernte ich dann das erste Mal wieder einen interessanten Menschen kennen.
Und ich meine damit einen wirklich interessanten Menschen!
Diese Erkenntnis erstaunte mich selbst, da ich meine Mitmenschen schon lange als wertlos eingestuft hatte. Ich hatte mich damit abgefunden, ständig von meinungslosen, braven Puppen umgeben zu sein.
Ich sehnte mich nach den Abenteurern und Rebellen, wie sie in meinen Geschichten stets beschrieben waren. Andersdenker. Revolutionäre.
Was war schon eine gute Geschichte, wenn es nicht auch einen Bösewicht gab?

Und Kana war anders. Sie war eine faszinierende Frau.
Ich traf sie zufällig in einer kleinen Bar nahe des Buchladens, wo sie sich nach Feierabend einen Drink genehmigte.
Eigentlich verschlug es mich selten in solche Läden, weil ich die Abgeschiedenheit meiner Bücher den Menschen vorzog.
Warum ich an jenem Abend das Haus verlassen hatte, weiß ich leider nicht mehr. Vielleicht war es eine Vorahnung. Denn mit Kana würde sich alles ändern.

Zuerst einmal möchte ich euch erzählen, wie mein erster Eindruck von ihr war.
Kana war 32 Jahre alt, als wir uns an jenem Abend kennen lernten. Sie entpuppte sich bereits auf den ersten Blick als eine chaotische Frau. Egal wie ich es drehte und wendete, ich konnte es nicht anders formulieren. Ihre Haare waren lila, gelb und pink gefärbt und ihr ausgeleiertes Top und die halblange Hose waren weder der Jahreszeit entsprechend, noch sonderlich gepflegt. Sie war bereits leicht angetrunken und konzentrierte sich die meiste Zeit darauf, ihre Lederarmbänder gleichmäßig um ihre Finger zu wickeln.
Anfangs belächelte ich sie aus der Ferne. Als sie mir dann aber ihr Gesicht zuwandte und mich mit Schalk in den Augen und einem wissenden Lächeln auf den Lippen anblickte, wurde ich neugierig.
Da war etwas an ihr, das nicht langweilig war.
Zum ersten Mal seit vielen Jahren sah ich eine Rebellin.

Obwohl viel Zeit ins Land gezogen war und ich meist nur mit meinen Eltern und meiner Tante verkehrte, so wirkte mein Charme wohl immer noch. Wir verstanden uns auf Anhieb und ich merkte bald, dass Kana ein Andersdenker war. Sie war eine Rebellin und vielleicht wäre sie sogar eine Revolutionärin gewesen, hätte sie die Freiheit dazu gehabt.

Nach nur wenigen Abenden, in denen wir uns in der gleichen Bar trafen, vertraute sie mir immer mehr Details aus ihrem Leben an. Sie erzählte mir von ihrem Ex-Mann und von ihren zwei Kindern. Sie zeigte mir Bilder und ich war erstaunt.
Ihre beiden Kleinen lächelten auf den Fotos und sahen unglaublich glücklich aus. Kein Wunder. Sie wurden von jemandem groß gezogen, der das ehrliche Lächeln noch nicht verlernt hatte.

Kana erzählte mir von ihrem Wunsch eines eigenen Friseursalons und Sybils Entscheidung, dass sie höchstens eine Angestellte in einem bestehenden Geschäft werden könne. Sie berichtete von ihrer verzweifelten Ausbildungssuche und von den harten Zeiten, als sie danach mit dem ersten Baby arbeitslos war.
Irgendwann hatte sie trotz allem aus eigenem Antrieb einen kleinen Friseursalon eröffnet. Die Kinder wären dabei wohl ihre Motivation gewesen. Sybil hatte Unrecht gehabt.
Diese Frau war der erste Mensch, der sich meinem Wissen nach willentlich und erfolgreich gegen eine Entscheidung dieses Systems behauptet hatte. Ich hatte sehr großen Respekt vor ihr.
Sie zeigte mir Magazine über Frisuren und war begeistert von meinem langen, hellen Haar und fragte immer wieder, ob sie es schneiden dürfe.
Einige Tage lehnte ich ab, ließ mich schlussendlich aber doch überreden. Bis dato hatte mir meine normale, wenn nicht sogar ‚brave' Frisur gefallen. Und dennoch ließ ich sie gewähren, weil es ihr eine Freude bereitete.
Ich realisierte erst später, dass ich nach weit mehr als zehn Jahren wieder ein Stückchen Gesellschaft gefunden hatte. Ich hatte für diese Frau meinen eigenen Wunsch hintenan gestellt und war einen Kompromiss eingegangen. - Weil sie es wert war.

Schneeweiße Biografien - Die Geschichte von Makishima ShogoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt